Freund oder Feind?

von Heike

 

"Mann, wäre ich jetzt gern in der Kirche", stöhnte Little Joe Cartwright, während er die Füße fest in den Boden stemmte und mit aller Kraft an dem Seil zog, das um den abgesägten Baumstumpf geschlungen war. Sein Freund, der von der anderen Seite versuchte, das hölzerne Ungetüm aus dem Boden zu hieven, ließ die dicke Eisenstange, die als Hebel fungierte, sinken. Dankbar für die kleine Pause in der glühenden Hitze trank er erst einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche und fragte dann:

"Was hast du gerade gesagt? Ich hab' dich nicht verstanden."

 

"Ach, nichts", erwiderte Little Joe und nahm dankend die Wasserflasche, die der andere ihm entgegenhielt. Er wusste genau, dass Perry Hike sich über seine Bemerkung, die ihm unbedacht herausgerutscht war, nur lustig machen würde.

 

Aber sein Freund blieb hartnäckig. "Doch, du hast was über Kirchen gesagt. Was?"

 

Der andere würde sowieso keine Ruhe geben, also gestand Little Joe verlegen: "Ich sagte, ich wäre jetzt gerne in der Kirche."

 

Perry starrte ihn einen Moment fassungslos an und brach dann in schallendes Gelächter aus. "Du hast einen Sonnenstich. Okay, ich weiß, seit Tagen hast du nur festsitzende Baumstümpfe, wackelnde Zaunpfähle und mein dummes Gesicht zur Gesellschaft, aber trotzdem - Kirche? Das ist wirklich bescheuert. "

 

"Ist es nicht! Wir arbeiten jetzt seit zwei Wochen ununterbrochen hier draußen und ich brauche wirklich ein bisschen Abwechslung. Und es ist schließlich Sonntagvormittag", schmollte Little Joe.

 

"Weiß' der Himmel, warum ihr sonntags immer in die Kirche müsst", mokierte sich der junge Mann kopfschüttelnd und nahm die Eisenstange wieder in die Hand.

 

"Genau", bestätigte sein Freund nachdrücklich und nahm ebenfalls das Seil wieder auf. Perry warf ihm einen fassungslosen Blick zu, sagte aber nichts mehr dazu.

 

Sie arbeiteten etwa eine Stunde schweigend in der Hitze, da erschien plötzlich ein unerwarteter Reiter auf der Hochebene.

 

"Das ist Adam", erklärte Little Joe verwundert, "ich dachte, der fällt Bäume am King's Canyon."

 

Wenig später sprang Adam Cartwright gutgelaunt neben den beiden jungen Männern aus dem Sattel. "Hallo ihr beiden - habt ihr ein bisschen Wasser übrig für einen armen, müden Holzfäller?"

 

"Klar", lachte sein kleiner Bruder und reichte im die Wasserflasche, "aber solltest du nicht irgendwo eine Axt schwingen? Pa wird es nicht mögen, wenn du hier blau machst."

 

"Im Gegenteil, Pa wird begeistert sein. Wir sind so gut wie fertig da unten, spätestens übermorgen können wir mit dem Abtransport der Stämme beginnen." Er strahlte voller Stolz, fügte dann anerkennend hinzu: "aber ihr habt auch nicht auf der faulen Haut gelegen, wie ich sehe. Wenn die Herde übernächste Woche hier eintrifft, findet sie eine prima Weide vor."

 

"Könnt ihr mir vielleicht mal erklären, warum euer Vater 5000 Rinder von Oregon herbringen lässt? Habt ihr nicht schon genug Kühe hier rumstehen?"

 

"Pa hat schon mehrfach versucht, durch eine andere Rasse die Zucht zu verbessern. Und diese Herde konnte er günstig bekommen, also hat er nicht lange gezögert. Das einzig Ungewöhnliche an der Sache ist, dass der Verkäufer unbedingt Bargeld haben will, wenn er hierher kommt. 10 Dollar pro Kopf, das sind 50 000 Dollar", antwortet Little Joe.

 

Perry pfiff leise durch die Zähne.

 

"Das ist verdammt viel Geld. Habt ihr das einfach so in der Schreibtischschublade rumliegen?" staunte der junge Mann. Er lebte noch nicht lange auf der Ponderosa, und manchmal konnte er die unbekümmerte Art der Cartwrights mit ihrem Geld und ihrer Macht umzugehen kaum begreifen.

 

"Keine Ahnung, am besten, du fragst Pa selbst", schlug Adam vor.

 

"Mach' ich."

 

Die beiden Brüder zwinkerten sich zu.

 

"Er wird's dir aber nicht verraten", erklärte Little Joe sachlich, "weil du ein Bandit bist."

 

"Und weil du mit der Knete bei der nächsten Gelegenheit durchbrennst", ergänzte Adam todernst.

 

Perry musterte die beiden prüfend. Erleichtert stellte er fest, dass sie sich ein Lachen kaum verkneifen konnten.

 

"Aber vorher werde ich euch in euren Betten ermorden und das Haus niederbrennen", stieg er augenzwinkernd auf den Scherz ein.

 

Ben Cartwright hatte Perry Hike vor ein paar Monaten auf seine Ranch geholt und der junge Herumtreiber hatte sich anfangs sehr schwer getan zu akzeptieren, dass die Cartwrights sich tatsächlich nicht daran störten, dass er es mit den Gesetzen nicht so genau genommen hatte und sogar schon mal im Gefängnis gewesen war. Inzwischen fühlte sich der Bursche aber beinahe schon wie ein Familienmitglied, und solche Scherze konnten ihn nicht mehr erschrecken.

 

"Apropos Bett, ich wollte jetzt zur Ranch reiten, um Pa über das Holz zu informieren und um endlich mal eine Nacht im eigenen Bett zu pennen. Ihr seid doch auch schon fast fertig hier, gönnt euch doch einfach eine Pause und reitet mit mir heim", erklärte Adam.

 

"Es ist fast ein Tagesritt von hier bis zur Ranch", gab Little Joe zu bedenken, "hin und zurück zwei Tage, das ist eine Menge Aufwand für eine Nacht im eigenen Bett."

 

Aber da Perry offensichtlich von Adams Vorschlag begeistert war, gab er sich geschlagen und stimmte zu. Bald schon galoppierten die drei Männer nebeneinander über die Ebene nach Hause.

 

Es war weit nach Mitternacht, als sie endlich die Pferde versorgt hatten und müde ins Haus traten. Das Feuer im Kamin war schon fast niedergebrannt, aber der rötliche Schein der glimmenden Holzscheite reichte noch aus, so dass sie kein Licht brauchten. Adam steuerte zielstrebig auf die Sitzgruppe vor dem Kamin zu und ließ sich in den blauen Sessel fallen, Perry warf sich der Länge nach auf das Sofa und Little Joe lümmelte sich gemütlich in den rotbraunen Ledersessel.

 

"Das tut gut", stöhnte Adam und rekelte sich wohlig, "bin ich froh, wieder zu Hause zu sein

 

"Ich wusste schon gar nicht mehr, wie prächtig eure Hütte ist", murmelte Perry anerkennend und blickte sich um, als sähe er das Haus zum ersten Mal.

 

"Was macht ihr denn hier? Haben wir ein Problem? Ist etwas passiert?" fragte plötzlich eine besorgte Stimme vom Treppenabsatz her. Dort stand ein verstrubbelter Ben Cartwright in seinem dunkelroten Morgenmantel. Offensichtlich hatte ihn ihre leise Unterhaltung aufgeweckt.

 

"Guten Abend Pa", Little Joe setzte sich schnell auf, wohl wissend, dass sein Vater es nicht mochte, wenn seine Söhne auf den Möbeln herumlungerten, "keine Probleme, im Gegenteil, gute Nachrichten. Die Arbeit kommt besser voran als erwartet und wir haben uns deshalb eine Pause gegönnt. Das ist dir doch recht?"

 

"Sicher, die habt ihr euch bestimmt verdient", stimmte Ben beruhigt zu, "und morgen früh reden wir ausführlich über diese guten Nachrichten. Gute Nacht, Jungs." Er ging zurück nach oben, riet aber im Weggehen noch augenzwinkernd: "Ich schlage vor, ihr nehmt die Füße von den Möbeln, damit diese Hütte auch so prächtig bleibt."

 

***

 

Am nächsten Morgen bei einem ausgiebigen Frühstück hatten die beiden Brüder und Perry Gelegenheit, Ben ausführlich vom Fortschritt der Arbeit zu berichten, und dieser sparte nicht mit Lob und Anerkennung für ihren Einsatz. Obwohl sich keiner der drei beklagte, bemerkte der Rancher, wie erschöpft und abgekämpft sie waren, trotz der Nacht im eigenen Bett.

 

Fast als müsse er sie trösten, sagte er: "Es tut mir leid, dass das so eine harte Zeit für euch ist, aber es kommt so vieles zusammen. Wenn die Herde aus Oregon erst einmal hier ist, wird es wieder etwas ruhiger und ihr bekommt ein paar Tage Sonderurlaub, das verspreche ich."

 

Über die müden Gesichter huschte ein freudiges Lächeln. Plötzlich fiel Perry Hike das Gespräch vom Tag zuvor wieder ein.

 

"Diese 50 000 Dollar für die Herde, haben Sie eigentlich immer so viel Geld hier rumliegen?" fragte er vorwitzig, während es sich ungeniert zum dritten Mal Speck, Eier und Bratkartoffeln auf den Teller schaufelte.

 

Ben konnte ein Schmunzeln über die unbekümmerte Neugier des jungen Mannes nicht verbergen. "Warum willst du das wissen? Bist du knapp bei Kasse?"

 

Perry grinste: "Ich bin immer knapp bei Kasse, aber deshalb klau' ich nicht - jedenfalls nicht mehr", fügte er selbstkritisch hinzu, "ich hab nur noch nie soviel Geld auf einem Haufen gesehen."

 

"Verstehe", nickte Ben belustigt, "aber ich muss dich enttäuschen, das Geld ist noch auf der Bank. Sobald es hier ist, darfst du es anfassen - unter meiner Aufsicht natürlich."

 

Perry war so sehr Feuer und Flamme über diesen Vorschlag, dass er sein restliches Frühstück vergaß. "Und wann ist das Geld hier?" fragte er gespannt.

 

"Das weiß ich selber noch nicht, aber wenn plötzlich vier Mann vor dem Haus Wache stehen, ist es soweit", erklärte der Rancher und wechselte dann das Thema. "Little Joe, du wirst für mich gleich ein paar Dinge in Virginia City erledigen. Ich hoffe, du bist nicht zu sehr enttäuscht, dass du heute keine Zäune aufstellen kannst."

 

"Ja Sir. Ich meine, nein Sir", Little Joe war vor Freude völlig durcheinander. "Was soll ich denn tun?" Ben erklärte es ihm, während Perry und Adam ein bisschen neidisch zuhörten. Dann war das Frühstück beendet; die drei rüsteten zum Aufbruch und holten ihre Jacken und Hüte.

 

"Adam, mit dir möchte ich noch ein paar Dinge besprechen, bevor du wieder zu den Holzfällern reitest", hielt Ben den älteren Sohn zurück. Little Joe verschwand nach draußen, aber als Perry an der Tür war, bremste Ben ihn ebenfalls. "Perry, für dich habe ich auch einen Auftrag."

 

"Na toll. Vermutlich darf ich Little Joes Arbeit mitmachen", brummelte Perry missmutig und wandte sich Ben zu.

 

"Das wäre mir gar nicht eingefallen, junger Mann. Gute Idee", lobte Ben ironisch.

 

Perry verstand es zu Recht als leichten Vorwurf und lächelte verlegen. "Eigentlich ist es keine gute Idee. Tut mir leid, Boss. Ist mir so rausgerutscht."

 

"Ich dachte, es ist vielleicht besser, wenn Little Joe etwas Unterstützung bekommt. Du reitest mit ihm nach Virginia City und passt auf, das alles klargeht."

 

"Ja Sir!" Der Bursche strahlte übers ganze Gesicht und stürmte nach draußen, damit es sich der Rancher nicht noch anders überlegen konnte.

 

Adam blickte seinen Vater ungläubig an: "Du beauftragst Perry, um auf Little Joe aufzupassen? Da könntest du auch einen Fuchs beauftragen, den Hühnerstall zu bewachen. Wirklich Pa, sollte da nicht jemand dabei sein, der etwas mehr geistige Reife und Verantwortungsbewusstsein besitzt?"

 

"Geistige Reife und Verantwortungsbewusstsein?" wiederholte Ben amüsiert. "Wen schlägst du vor?"

 

"Nun, die Holzfäller kommen ganz gut ohne mich aus. Ich könnte..."

 

Ben lachte. "Netter Versuch, mein Sohn. Es tut mir leid, aber ich brauche dich hier auf der Ranch. Schau dir mal diese Aufstellung an ..." Bald waren sie in geschäftlichen Problemen versunken und vergaßen darüber auch die beiden Burschen, die in diesem Moment ausgelassen Richtung Virginia City galoppierten.

 

***

 

Little Joe und Perry hatten ungefähr zur Mittagszeit erledigt, was Ben ihnen aufgetragen hatte.

 

"Erlaubst du mir noch ein Bier, bevor wir zurückreiten, großer Aufpasser?" spöttelte Little Joe, als sie sich bei den Pferden trafen. Dass sein Vater Perry zur Kontrolle mitgeschickt hatte, nahm er genauso wenig ernst wie sein Freund. Die jungen Männer wussten genau, dass Ben beiden nur ein bisschen Zeit zum Ausruhen gönnte. "Ich hab' gehört, im 'Mexican Hat' bedient ein neues Mädchen, eine ganz niedliche, kleine Rothaarige. Wie wär's damit?"

 

Perry zögerte. "Der 'Mexican Hat' liegt am Ende der D-Street. Dein Pa sieht es bestimmt nicht gern, wenn wir uns da rumtreiben. Warum gehen wir nicht einfach in den 'Silver Dollar' oder in den 'Bucket Of Blood' auf der anderen Straßenseite?"

 

"Dein Pa sieht es nicht gern", äffte Joe seinen Freund nach, "im 'Bucket' ist nur Sam und keine kleine Rothaarige - deshalb!"

 

"Ich weiß nicht", murmelte Perry, immer noch unschlüssig, gab sich aber schließlich geschlagen, "also gut, zum 'Mexican Hat' - aber nur ein Bier, okay?"

 

"Ein Bier für dich und eine niedliche Rothaarige für mich", bestätigte Joe und marschierte los. Perry folgte ihm mit gemischten Gefühlen.

 

Als sie den 'Mexican Hat' betraten, wussten beide sofort, dass diese Kneipe keine gute Wahl gewesen war. Es war düster, schmuddelig, und nur ein paar zwielichtige Typen umlagerten die Theke. Und die beiden Frauen, die an einem Tisch im Hintergrund auf Kundschaft warteten, waren nicht rothaarig und bestimmt nicht niedlich. Aber die beide waren zu stolz, jetzt umzukehren. Little Joe ging zur Bar.

 

"Zwei Bier bitte" orderte er und ließ eine Münze auf den Tresen fallen.

 

"Was sucht'n der?" fragte der Barkeeper, ein schmieriger, fetter Typ mit Halbglatze und dreckiger Schürze, auf Perry deutend, der sich neugierig umsah.

 

"Der sucht eine kleine Rothaarige, die hier an der Bar bedienen soll", antwortete Perry ihm gelassen und grinste ihn dabei auch noch freundlich an.

 

Der Barkeeper fühlte sich verspottet und war empört. "Ich bediene hier. Sehe ich etwa aus wie eine kleine Rothaarige?" fauchte er wütend.

 

Nein - jedenfalls nicht auf den ersten Blick," bestätigte Perry mit einem zweideutigen Augenzwinkern und machte es dadurch noch schlimmer.

 

"Am besten, ihr beide verschwindet ganz schnell von hier. Ihr passt sowieso nicht hierher", zischte der Dicke hinter dem Tresen nun unfreundlich und erreichte damit genau das Gegenteil bei Perry. Der schaltetet auf stur.

 

"Mein Freund hat Bier bestellt und bezahlt. Wird's bald?"

 

Little Joe griff hastig nach dem Glas, das der wütende Wirt vor ihm auf den Tresen knallte. Er spürte das drohende Unheil und wollte so schnell wie möglich raus aus dieser Kaschemme. Aber Perry packte seinen Arm, bevor er trinken konnte, und hielt ihn fest.

 

"Das Glas ist schmutzig, gib ihm ein sauberes", befahl der junge Mann nachdrücklich und blickte dem Wirt herausfordernd an.

 

Es kam Little Joe wie eine halbe Ewigkeit vor, aber sicher waren es nur wenige Sekunden, bis der Dicke langsam das Glas zurücknahm und anderes vor ihn hinschob. In einem Zug kippte er ungefähr die Hälfte der lauwarmen, schal schmeckende Flüssigkeit hinunter, stellte dann das Glas zurück auf die Bar und nickte Perry auffordernd zu. "Mir reicht's. Lass uns gehen."

 

Draußen vor dem Saloon blieben sie noch einen Moment stehen. Perry schüttelte sich angeekelt und feixte dann: "Von wegen süße Rothaarige - du solltest den verklagen, der dir den Tipp gegeben hat."

 

"Verklagen ist viel zu gut", grollte Little Joe, "verprügeln werd' ich Adam."

 

Sie gingen ein paar Schritte, aber dann versperrte ihnen ein Mann provokativ den Weg. Little Joe und Perry, die waren, dass die Situation im 'Mexican Hat' nicht eskaliert war, wollten auch jetzt Ärger vermeiden. Aber sie konnten nicht zur Seite ausweichen, denn auch da war jetzt ein Mann wie aus dem Nichts aufgetaucht, der sie feindselig anstarrte. Und dicht hinter ihnen nuschelte plötzlich eine bedrohliche Stimme:

 

"Ihr habt Charly geärgert, das ist nicht gut - gar nicht gut."

 

"Wer zum Teufel ist Charly?" fragte Little Joe und fuhr herum. Zumindest die beiden Männer, die sich von hinten angeschlichen hatten, erkannte er, sie hatten noch vor wenigen Minuten im Saloon herumgelungert.

 

"Charly ist unser Freund. Ihm gehört der 'Mexican Hat'."

 

"Ach, der dicke Wirt" erwiderte Perry geringschätzig, "der hat keine bessere Behandlung verdient. Wenn dein Freund Charly weiterhin so unfreundlich ist, kann er seine Drecklochskneipe bald dichtmachen."

 

Der Mann antwortete nicht, statt dessen schoss unvermittelt seine Faust vor und knallte dem junge Mann mitten ins Gesicht. Der Angriff kam so überraschend, dass Perry nicht einmal Zeit blieb, auszuweichen, der Schlag traf ihn mit ganzen Wucht. Er machte einen unfreiwilligen Satz nach hinten und stolperte gegen einen der anderen Männer, die sie umringten. Der schlug ebenfalls sofort zu, und der junge Mann wurde in eine andere Richtung geschleudert.

 

Im Nu waren alle in die Schlägerei verwickelt, die schnell auch ein paar neugierige Gaffer anlockte. Perry und Little Joe hatten nicht die geringste Chance, denn die andern waren in der Überzahl und skrupellos genug, diesen Vorteil auszunutzen. Minuten später lagen die beiden wehrlos am Boden und immer noch prasselten Tritte und Schläge auf sie ein.

 

"Aufhören. Ihr bringt sie ja um. Aufhören, sag ich." Ein Fremder zwängte sich durch die Zuschauer und stürzte sich auf die Schläger. Einen nach dem andern packte er bei den Schultern und riss ihn zurück. Wer nicht sofort nachgab, wurde durch die Faust überzeugt. Schließlich hatte er die Männer von ihren Opfern getrennt.

 

"Haut ab, verdammt, ehe ich mich vergesse", brüllte er sie an und sie rannten augenblicklich los, "und ihr könnt auch verschwinden. Die Show ist vorbei."

 

Murrend gingen die Leute ihrer Wege; nur Little Joe, Perry und der Fremde blieben zurück. Der junge Cartwright quälte sich stöhnend wieder auf die Beine.

 

"Das war knapp - danke Sir", presste er mühsam hervor, die Arme gegen die schmerzenden Rippen gedrückt.

 

"War doch selbstverständlich. Bist du okay? Deinen Freund hier hat es offensichtlich schlimmer erwischt."

 

Der Fremde hatte inzwischen Perry, der immer noch reglos im Staub lag, vorsichtig umgedreht und kurz untersucht. Der junge Mann reagierte auf jede Berührung mit neuem Stöhnen, schien aber kaum wirklich wahrzunehmen, was um ihn herum vorging. Little Joe vergaß seine Schmerzen und kniete neben Perry nieder. Sein Freund erkannte ihn nicht, im Gegenteil, als Little Joe sich über ihn beugte, zuckte der junge Mann zusammen, als ob er weitere Schläge erwartete.

 

"Er braucht dringend einen Arzt. Gibt es einen hier in Virginia City?"

 

Es machte dem Fremden nicht die geringste Mühe, den leblosen junge Mann hochzuheben und auf seinen Armen zu tragen.

 

"Doc Martin wohnt gleich da drüben. Hoffentlich ist er daheim." Little Joe lief voraus und wies ihm den Weg. Doc Martin stellte keine Fragen, als die beiden mit der leblosen Gestalt auf den Armen vor seiner Tür standen.

 

"Bringt ihn da rein, dort auf die Liege", befahl er knapp, "ich hole meine Instrumente."

 

Die folgende halbe Stunde kümmerte der alte Arzt sich routiniert um den Patienten, während Little Joe kurz berichtete, was geschehen war, und danach beklommen auf das Ende der Untersuchung wartete. Der Fremde lehnte eine Weile am Türpfosten und hörte zu. Irgendwann verließ er für einen Augenblick den Raum und kam mit einem feuchten Tuch zurück, das er Little Joe hinhielt.

 

"Hier, kühl damit dein Veilchen. Wenn du nichts dagegen unternimmst, sind deine Augen morgen so geschwollen, dass du gar nichts sehen kannst."

 

"Danke Mister ... äh...ich weiß nicht mal ihren Namen, Sir. Ich heiße  Cartwright, Joe Cartwright."

 

"Harris, Percy Harris. Nett, dich kennen zu lernen,  Joe." Er schüttelte förmlich die dargebotenen Hand. "Nun, ich glaube, ich werde hier nicht mehr gebraucht, ich verschwinde jetzt. Doc, Joe." Er tippte zum Abschied kurz an den Hutrand und schon war er fort.

 

Doc Martin sah kurz auf, ohne jedoch die Arbeit an seinem Patienten zu unterbrechen.

 

"Little Joe, du brauchst auch nicht zu warten. Ich habe ihm was gegen die Schmerzen gegeben, davon schläft er ein paar Stunden. Du solltest nach Hause reiten, sonst macht sich dein Vater unnötig Sorgen."

 

"Ja, Sir, ich reite los, sobald ich weiß, was mit Perry genau los ist. Ist er schwer verletzt?"

 

Der Arzt lächelte beruhigend. "Dank Mr. Harris ist er noch mal davongekommen. Ich schätze, dein Freund hat noch ein paar Tage mächtige Kopfschmerzen, und die üblichen Blutergüsse und Prellungen müssen auch erst wieder verheilen, aber sonst ist er bald wieder wie neu."

 

Ben Cartwright war nicht gerade in bester Stimmung, als sein jüngster Sohn am späten Nachmittag mit einem zaghaften "Hi Pa" das Haus betrat.

 

"Warum hat das so lange gedauert? Ich hoffe, ihr habt eine gute Erklärung für fünf Stunden Verspätung", grollte er. Erst dann bemerkte er, in welcher Verfassung sein Sohn war und auch, dass er allein heimgekommen war. Der Ärger verwandelte sich sofort in Besorgnis. "Little Joe, was ist passiert? junge Mann, setze dich erst mal. Wo ist Perry?"

 

Little Joe druckste einen Moment herum, aber unter dem durchdringenden Blick seine Vaters riss er sich zusammen und schilderte ohne Umschweife, was geschehen war. Der Vater schüttelte ungläubig den Kopf, als sein Jüngster am Ende seines Berichtes angelangt war.

 

"Ausgerechnet im 'Mexican Hat' wollt ihr euch amüsieren. Eine schlimmere Kaschemme gibt es in ganz Virginia City nicht. Da geh' ja nicht mal ich freiwillig rein."

 

"Das konnten wir ja nicht wissen", murmelte Little Joe kleinlaut.

 

"Na, jetzt wisst ihr's jedenfalls", brummte Ben und unterdrückte ein Schmunzeln. Ihm fiel es schwer, streng zu dem Häufchen Elend zu sein, das da niedergeschlagen vor ihm im Sessel kauerte. "Wenn du dich prügelst, ist das deine Sache. Du bist alt genug. Aber ich erwarte, dass du morgen deine Arbeit tust, als ob nichts gewesen wäre. Am besten, du legst dich jetzt hin und ruhst dich aus. Und drück' was Kaltes auf dein blaues Auge, das hilft."

 

"Ja Sir." Erleichtert, so glimpflich davongekommen zu sein, sauste Little Joe die Treppe hoch in sein Zimmer.

 

***

 

Ben Cartwright staunte nicht schlecht, als er am späten Vormittag des nächsten Tages in die Küche kam, um sich frischen Kaffee zu holen. Jemand mit einem zerfetzten Hemd, Kopf und Arm bandagiert, über und über mit Blutergüssen und Schwellungen bedeckt, saß am Tisch, trank ein Glas Milch und aß dazu Rührei und eine Scheibe Brot. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte er seinen Schützling.

 

"Perry, was machst du denn hier? Ich dachte, Doc Martin pflegt dich gesund."

 

"Hallo Mister Cartwright. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, dass ich mich hier von Hop Sing bedienen lasse. Aber ich bin heute morgen ganz ohne was im Magen in Virginia City losgeritten, und jetzt hab' ich tierischen Hunger."

 

"Du kannst natürlich essen, was du magst. Aber wieso hat Paul Martin dich ohne Frühstück weggeschickt?"

 

Statt zu antworten, biss Perry zaghaft in sein Brot und kaute vorsichtig. Die meisten Schläge am Tag zuvor hatten Kinn und Kiefer getroffen. Der Rancher durchschaute das Ablenkungsmanöver und wartete. Schließlich konnte der junge Mann die Antwort nicht länger hinausschieben.

 

"Der Doc hat mich nicht direkt weggeschickt", gestand er zögern.

 

Ben Cartwright wurde langsam ungeduldig. "Und was bitte heißt 'nicht direkt' ?"

 

"Als ich losgeritten bin, schliefen alle noch."

 

"Wie kann man nur so unvernünftig sein", schalt der Rancher ärgerlich "hast du denn keine Augen im Kopf? Sieh einfach mal in den nächsten Spiegel und dann sag mir, ob man in so einem Zustand meilenweit reiten sollte!"

 

"Warum brüllt er bloß so? Ich hab' Kopfschmerzen", murmelte der junge Mann leise in sein Brot, aber Ben verstand ihn trotzdem.

 

"Ich brülle nicht!" brüllte er ärgerlich und fügte dann, allerdings etwas gedämpft, hinzu: "Ich will nur wissen, was du dir bei all dem Unsinn denkst. Erst der 'Mexican Hat' und jetzt diese Meisterleistung. Benutzt  du gelegentlich mal deinen Verstand?"

 

"Ich wollte doch nur möglichst schnell wiederkommen, damit der Zaun fertig wird", rechtfertigte der junge Mann sich trotzig, obwohl er selber schon gemerkt hatte, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Aber sein Stolz ließ nicht zu, diese Schwäche zuzugeben.

 

"Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, es arbeiten hier auf der Ranch noch ein paar Leute, die einen Zaun aufstellen können, und die sind auch schon damit beschäftigt", kommentierte Ben bissig. Allerdings verflog sein Zorn allmählich. Dass Perry so pflichtbewusst war und trotz Schmerzen arbeiten wollte, sprach für ihn. Und von der Gefährlichkeit der Kneipe hatten Little Joe und er ja offensichtlich nichts gewusst, wie sein jüngster Sohn am Abend zuvor beteuert hatte. "Ich halte es für das Beste, du legst dich gleich ins Bett. Solange du nicht wieder fit bist, bist du keine große Hilfe."

 

"Aber ich kann..."

 

"Perry - ins Bett!"

 

Ohne ein weiteres Wort stand der junge Mann auf und gehorchte schmollend.

 

***

 

Perry fuhr erschrocken aus dem Schlaf hoch. Er brauchte ein paar Sekunden um zu begreifen, dass das merkwürdige Geräusch, das ihn geweckt hatte, Little Joe war, der ein Tablett mit Essen hereinbalancierte.

 

"Warum weckst du mich?" knurrte er verschlafen.

 

"Damit du dein Abendessen isst", antwortete sein Freund gelassen.

 

"Abendessen? Spinnst du? Ich hab mich gerade erst hingelegt!"

 

Little Joe stellte das Tablett ab und setzte sich grinsend auf die Bettkante. "Irrtum. Du hast fast acht Stunden gepennt. Wie geht's dir denn jetzt?"

 

Perry wurde langsam wach. Er rieb sich verschlafen die Augen und streckte sich ausgiebig. "Acht Stunden - wirklich? Mist, dann hatte dein Vater wohl doch Recht. Wie immer. Ist er eigentlich noch sauer auf uns wegen der Geschichte vom 'Mexican Hat'?"

 

"Ach was. Ich glaube, er war wohl auch nie wirklich wütend. Es ist ja auch alles noch mal gut gegangen."

 

Perry dachte einen Moment darüber nach, dann lächelte er zaghaft. "Gutgegangen ist es wohl nur, weil du uns gerettet hast. Ich kann mich nur noch erinnern, dass ich ziemlich Prügel bezogen habe. Danke mein Freund."

 

"Den Dank schuldest du nicht mir. Bedanke dich lieber bei diesem Percy Harris. Wenn er nicht dazwischengegangen wäre, hätten die Kerle uns beide fertiggemacht."

 

"Percy Harris? Wer ist das?"

 

Little Joe erzählte seinem Freund nun in allen Einzelheiten, wie die Schlägerei vor dem 'Mexican Hat' beendet wurde und was sich danach ereignet hatte, während Perry sein Abendessen vertilgte.

 

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen besprach Ben Cartwright mit seinen Söhnen und dem wieder einigermaßen erholten Perry die Arbeiten, die am Tage zu erledigen waren. Als er Perry seine Aufgabe geben wollte, bat der junge Mann höflich:

 

"Darf ich heute die Post aus Virginia City holen, Boss? Ich muss in der Stadt noch etwas erledigen."

 

"Nein, das ist nicht deine Sache, das erledigt einer der Rancharbeiter", erwiderte Ben ablehnend.

 

"Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Pa einen von euch beiden die nächsten drei Monate noch mal ohne Aufsicht in die Stadt lässt", mischte Adam sich augenzwinkernd ein, "nach dem Erfolg vom letzten Mal?"

 

"Aber ich muss in die Stadt", beharrte Perry und warf Ben einen flehenden Blick zu.

 

"Was musst du denn so dringend in der Stadt erledigen?" mischte sich nun auch Hoss ein. "Wenn ich du wäre, würde ich mich ein paar Tage von allen Saloons fernhalten."

 

"Ich will nicht in den Saloon. Ich möchte mich bei diesem Harris bedanken. Ohne ihn wären Little Joe und ich vermutlich nicht mit einem blauen Auge davongekommen."

 

"Im wahrsten Sinne des Wortes", lachte Hoss, "solche Prachtveilchen habe ich schon lange nicht mehr gesehen - und gleich in zweifacher Ausführung."

 

Little Joe und Perry quittierten diese Bemerkung mit einer Grimasse.

 

Der Rancher gab nach. "Also gut, du holst heute die Post und bringst die Hufeisen mit, die ihr vorgestern bestellt habt. Aber dann kommst du sofort zurück, okay?"

 

"Ja, Sir. Danke." Schon hatte er sich Hut und Jacke geschnappt und war verschwunden.

 

Einige Zeit später war die Post abgeholt, die Hufeisen aufgeladen und Perry machte sich nun daran, den hilfreichen Fremden zu suchen. Da er ihn aber noch nie gesehen hatte und Little Joes vage Personenbeschreibung auf jeden dritten Mann in Virginia City passte, hatte er kaum eine Chance, den Retter zu finden, obwohl er durch die ganze Stadt lief und überall herumfragte.

 

Sheriff Coffee schüttelte nur bedauernd den Kopf, nutzte aber die Gelegenheit zu einer Standpauke wegen des Besuchs im 'Mexican Hat'. Doc Martin hatte ebenfalls keine Ahnung, wohin der Fremde verschwunden war, nutze aber ebenfalls die Gelegenheit zu einer Standpauke, diesmal wegen des heimlichen Aufbruchs am Vortag. Es war schon fast Mittag, als Perry enttäuscht zurück zum Wagen ging.

 

"Na junger Mann, ich hörte, du hast überall nach mir gefragt. Hier bin ich."

 

Perry musterte den Fremden, der ihn angesprochen hatte, von oben bis unten: groß und kräftig, blond, weder besonders alt noch besonders jung, mit ziemlich heruntergekommenen Klamotten stand er da und grinste den junge Mann freundlich an. Der ahnte, wen er vor sich hatte.

 

"Mister Harris?"

 

"Der bin ich höchstpersönlich, aber nenn' mich Percy, das klingt nicht so förmlich."

 

"Okay, und ich heiß' Perry. Ich hab' dich den ganzen Morgen gesucht."

 

"Ich weiß. Warum denn? Hab ich was ausgefressen?"

 

"Nein, ich will mich bedanken für die Hilfe vorgestern." Er streckte dem Fremden die Hand entgegen und der Mann schlug lächelnd ein. Sie blieben eine Weile beim Wagen stehen und fachsimpelten über die Qualität der Saloons von Virginia City. Dabei fiel Perry auf, dass der andere unablässig zwei kleine Jungen auf der anderen Straßenseite beobachtete, die jeder mit Hingabe ein großes Butterbrot verspeisten. Der junge Mann begriff.

 

"Heute schon gefrühstückt?"

 

Der andere lächelte verlegen. "Nein, ich ...äh ...bin ein bisschen knapp bei Kasse, um ehrlich zu sein, da ist nur eine Mahlzeit am Tag drin", gestand er schließlich verschämt.

 

"Aber ich hab' etwas Geld. Und du bist eingeladen. Los komm!" grinste Perry und freute sich, dem anderen so für die Rettung danken zu können.

 

Bald saßen sie im Restaurant vom International House und futterten Steaks, Bratkartoffeln und Spiegeleier. Harris schaffte zwei große Portionen und konnte beim Kauen immer noch ununterbrochen reden. Irgendwann kam er auf Perrys Arbeit zu sprechen.

 

"Auf der Ponderosa arbeitest du? Muss ja 'ne mächtig feine Ranch sein, wenn man glauben kann, was die Leute so erzählen."

 

"Was erzählen die Leute denn?" fragte Perry neugierig, während er in dem Essen auf seinem Teller herumstocherte. Er war nicht hungrig, fand es aber unhöflich, Harris allein essen zu lassen.

 

"Na, dass die Cartwrights stinkreich sind und wie die Könige leben."

 

"Das ist Unsinn. Klar haben sie Geld, aber dafür arbeiten sie auch hart. Ben Cartwright ist ein guter Boss, auf den lass ich nichts kommen."

 

"Stimmt es, dass er in Oregon eine riesige Rinderherde gekauft hat, die jetzt hierher getrieben wird?"

 

"Ja genau, deshalb ist zur Zeit auf der Ranch der Teufel los. Wir müssen alles vorbereiten. Weide, Zäune, Futter und so, jedenfalls eine Menge zusätzlicher Arbeit für 5000 Stück Vieh."

 

Percy Harris pfiff anerkennend durch die Zähne. "5000 Rinder? Wahnsinn - was muss man denn dafür löhnen?"

 

"10 Dollar pro Kopf und das bar auf die Hand."  Perry amüsierte es, das der andere so beeindruckt war.

 

"50 000 Dollar? Wow, das ist verdammt viel Geld. Hat dieser Cartwright das einfach so in der Brieftasche?"

 

"Nein, hat er nicht. Er holt es von der Bank, wenn die Herde ankommt und stellt dann gleich 'ne halbe Armee auf, um es zu bewachen."

 

"Ne halbe Armee? Wie meinst du das?" Harris hatte inzwischen auch seine zweite Portion geschafft und lehnte dankend ab, als Perry ihm die dritte anbot. Auch Perry hatte Steak und Ei verdrückt und trank genüsslich seine letzte Tasse Kaffee.

 

"Wenn das Geld auf der Ranch ist, stellt Mister Cartwright jede Menge Wachen auf. Die Ranch  ist dann besser bewacht als der Präsident der Vereinigten Staaten." Perry strahlte stolz bei dem Gedanken an die Festung, zu der die Ponderosa werden würde. "Die Ranch ist dann uneinnehmbar."

 

Harris grinste mit ihm. Er trank seinen Kaffee aus und setzte die Tasse mit einem Ruck zurück auf den Tisch. "Wir sollten jetzt fertig werden. Es ist schon Mittag."

 

"So spät schon? Verdammt, dann muss ich los." Perry sprang erschrocken auf, fischte ein paar Geldscheine aus der Hosentasche, warf sie auf den Tisch und griff nach seinem Hut. "Mach's gut."

 

Perry jagte den Wagen wie der Teufel nach Hause. Er ließ das Pferd die ganze Strecke im vollen Galopp laufen, und glücklicherweise passierte nichts, obwohl das Gespann auf der unebenen, steinigen Straße mehr als einmal umzukippen drohte. Trotzdem konnte der junge Mann nicht verhindern, dass er mehrere Stunden zu spät heimkam. Und zu allem Unglück war Ben Cartwright gerade im Stall, als Perry das schweißüberströmte Pferd in seine Box führte.

 

"Warum hast du den Braunen so geschunden? Das Tier kann sich ja kaum noch auf den Beinen halten", fragte der Rancher ärgerlich, während er kopfschüttelnd zusah, wie Perry das Pferd trockenrieb.

 

"Tut mir leid. Ich war etwas spät dran ", antwortete der junge Mann schuldbewusst.

 

"Etwas spät dran?" Ben nestelte demonstrativ seine Taschenuhr aus der Westentasche und blickte darauf. "Drei Stunden Verspätung sind nicht 'etwas spät dran': Was hat dich heute aufgehalten?"

 

"Ich habe mit diesem Percy Harris gefrühstückt. Er..."

 

"Gefrühstückt? Hattest du hier nicht genug Frühstück, bevor du losgeritten bist?"

 

"Doch schon, aber..."

 

"Aber, aber", echote der Rancher ungehalten, "aber wir haben mal wieder nicht nachtgedacht, nicht wahr? Jetzt hör gut zu, mein Junge, du wirst die Eisen abladen. Und bei der Gelegenheit kannst du gleich das Magazin aufräumen, da herrscht nämlich ein ziemliches Durcheinander. Und wenn du damit fertig bist, liegt da drüben ein Haufen Holz, das gesägt werden muss. Ich reite jetzt zu Adam und Hoss 'rüber, du bist also ganz ungestört. Verstanden?"

 

"Ja Sir." Perry trottete zerknirscht zum Wagen und begann mit dem Abladen. Den Rest des Tages arbeitete er verbissen vor sich hin, obwohl seine lädierten Rippen bei jeder heftigen Bewegung protestierten. Als am Abend der Reihe nach Hoss, Adam, Little Joe und Ben Cartwright nach Hause kamen, hackte der junge Mann immer noch Holz und sah von seiner Arbeit kaum auf.

 

Selbst als das Abendessen auf dem Tisch stand, blieb der junge Mann draußen bei der Arbeit. "He, du da hinten, hast du keinen Hunger?" rief Ben verwundert von der Tür herüber.

 

"Nein, danke. Ich bin noch nicht fertig, und außerdem hatte ich heute zweimal Frühstück."

 

Ben warf dem Jungen einen mahnenden Blick zu, ließ die Bemerkung aber unkommentiert. Als Perry schließlich müde hereinkam, waren die Cartwrights mit dem Abendessen längst fertig und der junge Mann musste an diesem Abend hungrig zu Bett.

 

***

 

Am nächsten Morgen beim Frühstück war alles wie gewohnt. Der Rancher war nicht nachtragend; nachdem sein Schützling seine Arbeit getan hatte, war für ihn die Sache erledigt. Allerdings ließ Perry es auch nicht auf weiteren Ärger ankommen, unterließ jede spöttische Bemerkung und nahm auch die ihm zugeteilten Aufgaben für den Tag kommentarlos hin, obwohl er darauf brannte, sein Gespräch mit Percy Harris fortzusetzen. Nach dem Frühstück hatte der junge Mann es eilig, nach draußen zu kommen, denn er hatte eine Idee: Wenn er sich beeilte, konnte er morgens noch einen kurzen, unbemerkten Besuch in Virginia City machen und anschließend die ihm aufgetragenen Arbeiten erledigen.

 

Diesmal wusste Perry, wo er Percy Harris aufzuspüren konnte. Der Mann hatte am Tag zuvor erwähnt, dass er im 'Mexican Hat' ein Zimmer gemietet hatte. Allerdings fühlte Perry sich nicht gerade wohl, als er vor dem Saloon aus dem Sattel stieg. Er band sein Pferd direkt neben einer prächtigen schwarzen Stute vor dem Saloon fest und betrat das Gebäude. Als er den Wirt höflich nach der Zimmernummer fragte, schien Charly besser gelaunt als beim ersten Mal oder vielleicht erkannte ihn auch gar nicht erst.

 

"Zimmer? Darum kümmert sich meine Alte", brummte er abwesend und brüllte dann unvermittelt Richtung Hinterzimmer "Rosie! Kundschaft!"

 

Rosie kam eiligst angeschlurft und nach einem kurzen Blick auf den jungen Mann zerrte sie ein großes Buch unter der Theke hervor, schlug es auf und fuhr mit dem Finger die Seite entlang.

 

"Kitty? Ach nein, viel zu alt - Susanne, geht auch nicht, ist beschäftigt - Lizzy, ja, das könnte passen. Also gut Mister, Lizzy wartet in Zimmer 12, das kostet ..."

 

"Ich glaube, das ist ein Missverständnis", fiel Perry ihr grinsend ins Wort, kaum dass er begriff, was sie dachte. "Ich möchte kein ... äh ... Zimmer mieten, ich möchte zu Percy Harris, der soll hier wohnen."

 

"Ach so", antwortete Rosie enttäuscht und verstaute das Buch wieder, "dieser Harris hat Zimmer 7, die Treppe rauf und dann die Tür links."

 

"Danke." Perry schenkte ihr noch einmal kurz sein strahlendstes Lächeln, dann eilte er zur Treppe.

 

"Heute ist bestimmt nicht Lizzys Glückstag", murmelte Rosie, während sie versonnen dem hübschen jungen Mann nachblickte, der die Treppe hinaufstürmte.

 

"Was is'n?" fragte Charly vom andern Ende der Bar.

 

"Ach nichts", winkte sie ab und schlurfte zurück ins Hinterzimmer.

 

Perry klopfte kurz an die Tür von 107 und sah sich völlig unerwartet der Mündung eines Revolvers gegenüber, als die Tür aufgerissen wurde. Eine Schrecksekunde später hatte er sich soweit gefasst, dass er fragen konnte:

 

"Hi. Meine Güte, bist du nervös. Kommst du mit frühstücken?"

 

Percy Harris steckte mit einem verlegen Lächeln seine Waffe zurück ins Holster.

 

"Sorry, ich bin in diesem Etablissement ein bisschen vorsichtig. Aber die Einladung nehme ich gern an."

 

Perry nahm beeindruckt zur Kenntnis, dass die schwarze Stute vor dem Saloon, die ihn so gefallen hatte, Harris gehörte. Er konnte kaum die Augen von dem Pferd lassen, als sie langsam nebeneinander zum Restaurant im International House ritten. Daher war auch seine erste Bemerkung, als sie am Tisch saßen und auf ihr Essen warteten:

 

"Die Schwarze ist echt ein Klassepferd. Wenn du mal knapp bei Kasse sein solltest, dafür macht dir Mister Cartwright sofort ein gutes Angebot."

 

Harris lachte. "Danke, ich bin eigentlich immer knapp bei Kasse. Aber trotzdem, Blackberry ist nicht zu verkaufen. Als ich sie vor drei Jahren das erste Mal sah, war es Liebe auf den ersten Blick. Ich musste sie einfach haben. Und seitdem habe ich den Kauf nie bereut."

 

"Liebe auf den ersten Blick? So etwas gibt's doch nur in Romanen", spottete sein junger Gastgeber.

 

Inzwischen stand das Frühstück vor ihnen auf dem Tisch, und der frische Kaffee verbreitete seinen anregenden Duft. Percy Harris nahm nachdenklich seine Tasse, umfasste sie mit beiden Händen, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, starrte er versonnen in die schwarze Flüssigkeit. Dann schien er sich einen Ruck zu geben und begann zu erzählen, erst stockend, nach Worten suchend, dann immer zügiger. Es schien, als müsse er sich die Geschichte unbedingt von der Seele reden.

 

"Doch, es gibt Liebe auf den ersten Blick. Ich habe sie selbst erlebt. Es ist aber schon lange her,  wohl beinahe schon zwanzig Jahre. Trotzdem, ich werde es nie vergessen. Ich war damals so alt wie du jetzt, vielleicht etwas älter. Und ich saß im Gefängnis. Ich will dir nichts vormachen, ich hatte es verdient. Und es ging nicht um ein paar Tage in so einem netten, freundlichen Gefängnis wie hier in Virginia City mit einem netten, freundlichen Roy Coffee, sondern um mehrere Jahre in einer grausamen, menschenverachtenden Hölle. Die Aufseher trugen Gewehre und Peitschen und hatten scharfe Hunde. Sie taten nichts lieber als die Gefangenen zu quälen, die mit Ketten an den Fußgelenken von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang schlimmer als Tiere schuften mussten."

 

Hier wollte Perry ihn unterbrechen, aber Harris war so in seine Gedanken versinken, dass er einfach weitersprach.

 

"Irgendwann bot sich die Gelegenheit zur Flucht. Ich denke, jeder Mann dort träumt jede Sekunde davon abzuhauen. Ich war keine Ausnahme, aber dennoch, ich hatte diesen Ausbruch nicht geplant. Es ergab sich einfach so, als zwei Mitgefangene einen Wärter überwältigten. In dem darauf folgenden Tumult war da plötzlich ein offenstehendes Tor und ich nutzte die Chance ohne nachzudenken. Ich rannte, so schnell die Ketten es zuließen, rannte, als sei der Teufel hinter mir her, rannte, bis ich einfach nicht mehr weiterkonnte und in der Dunkelheit zusammenbrach. Als ich wieder zu mir kam, war sie bei mir und kühlte meine Stirn mit einem feuchten Tuch. Sie war keine schöne Frau, im Gegenteil, auf der Wange hatte sie eine Narbe, die ihr Gesicht seltsam schief aussehen ließ. Aber das war völlig unbedeutend. Ich sah sie und ich wusste, dass ich sie liebte. Ich sah nur in ihre tiefen, blauen Augen und wusste, dass alles gut würde."

 

Harris sprach immer noch mehr mit seinem Kaffee als mit dem jungen Mann, der ihm gegenüber saß. Deshalb bemerkte er auch nicht, dass Perrys anfängliche Skepsis verschwunden war und dass der junge Mann jetzt  gebannt zuhörte.

 

"Sie hatte mich gefunden, irgendwie in ihr Haus geschafft und versorgt. Ich weiß nicht, wie sie das fertiggebracht hat, aber sogar die Ketten waren verschwunden. Ich gestand ihr, vor wem ich auf der Flucht war und warum, obwohl ich da noch nicht einmal ihren Namen kannte. Aber ich konnte diese Augen nicht anlügen. Und sie? Anstatt den Sheriff zu holen, zog sie mich an sich, und wir küssten uns voller Leidenschaft. Sie lebte allein am Rande der Stadt in dem Haus, das ihr Vater ihr vermacht hatte. Es war kaum mehr als eine Hütte am Ende der Straße, und es kam selten jemand vorbei. Deshalb konnte ich mich dort ein paar Tage verstecken, ohne sie in Gefahr zu bringen. Und ein paar Nächte."

 

Er lächelte versonnen. Plötzlich schien ihm bewusst zu werden, dass er einen Zuhörer hatte. Er stellte verlegenen den Kaffee ab und nahm Messer und Gabel zur Hand. Perrys Stimme klang merkwürdig heiser, als er protestierte:

 

"Und weiter? Du kannst doch jetzt nicht aufhören! Was ist dann passiert?"

 

Percy Harris seufzte. "Es gibt nicht mehr viel hinzuzufügen. Das Gefängnis hat eine Suchmannschaft losgeschickt. Als sie in die Stadt kamen, habe ich mich gestellt, um Sue nicht in Gefahr zu bringen. Der Ausbruch hat mir noch vier zusätzliche Jahre in Knast beschert. Als ich endlich wieder frei war, habe ich sie sofort gesucht, doch nur noch ihr Grab gefunden. Ende der Geschichte."

 

Er begann mit geradezu übertriebener Hingabe, sein inzwischen erkaltetes Frühstück in sich hineinzuschaufeln. Perry begriff, dass sein Gast sich nicht weiter zu diesem Thema äußern wollte und widmete sich nun ebenfalls stumm seinem Essen, obwohl ihm zu der Geschichte eine Menge Fragen durch den Kopf schossen.

 

"Ich glaube, an diesen Luxus könnte ich mich schnell gewöhnen", philosophierte der Ältere zwischen zwei Bissen.

 

"Welchen Luxus meinst du?" fragte der junge Mann neugierig.

 

"Jeden Tag ein Klasse-Frühstück zum Beispiel"

 

Perry grinste. "Das lässt sich leicht machen", erklärte er augenzwinkernd.

 

"Und wie?" Percy Harris vergaß sogar für einen Moment seine kalten Bratkartoffeln.

 

"Hat das Wort 'Arbeiten' irgendeine Bedeutung für dich?" kam die amüsierte Gegenfrage.

 

Aber Percy Harris konnte bei diesem Thema nicht mitlachen. "Und wo soll ich arbeiten?", fragte er unwirsch. "Wer würde mich schon einstellen?"

 

"Am besten fragst du Mister Cartwright, ob er dir einen Job gibt. Wenn die Herde aus Oregon kommt, wird er ein paar Leute zusätzlich brauchen."

 

"Perry, ich habe dir doch gerade erzählt, dass ich ein Ex-Sträfling bin. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass der  König von Nevada mich einstellt."

 

Perry lachte nur über die völlig unbegründeten Bedenken seines Begleiters. "Wieso denn nicht? Meinen Boss stört das nicht. Glaub' mir, das weiß ich genau."

 

"Vielleicht frag ich ihn tatsächlich", sagte Percy. Zufällig sah er, wie hinter Perrys Rücken zwei Männer das Restaurant betraten und fügte beiläufig hinzu: "Ich kann's ja direkt tun. Cartwright ist gerade reingekommen."

 

"Er ist hier?" Entsetzt sprang Perry auf und drehte sich zur Tür um. Ben erkannte den jungen Mann im selben Moment, ließ seinen Begleiter stehen und stürmte zu dem Tisch, an dem die beiden gerade noch in Ruhe gefrühstückt hatten.

 

"Perry! Warum bist du nicht auf der Ranch und machst deine Arbeit? Was fällt dir ein, dich hier rumzutreiben?" donnerte er los, kaum dass er den Tisch erreicht hatte.

 

"Mister Cartwright...es tut mir leid...ich wollte nur ..." stammelte der überraschte Übeltäter kleinlaut. Er war kreidebleich geworden und wagte kaum, seinem Boss in die Augen zu sehen.

 

"Halt den Mund! Jetzt rede ich!" brüllte der Rancher ihn an. Der Bursche zuckte zusammen, verstummte augenblicklich und schien noch ein bisschen blasser zu werden, obwohl das kaum noch möglich war. In diesem Moment merkte Ben, dass das ganze Restaurant belustigt zuhörte, was seinen Ärger noch verstärkte. Aber er riss sich zusammen, senkte die Stimme und befahl mit einem knappen Kopfnicken Richtung Ausgang: "Ab nach Hause. Wir reden später darüber."

 

Perry gehorchte augenblicklich.

 

Später saß er im Wohnzimmer vor dem großen Kamin und wartete bedrückt auf die Ankunft des Ranchers. Er hatte das wütende Brüllen immer noch im Ohr und fürchtete eine Fortsetzung, mehr noch fürchtete er aber die Konsequenzen, die seine Missetat haben würde. Perry hatte Ben Cartwright noch nie so fuchsteufelswild erlebt. Er zuckte zusammen und sprang auf, als sich draußen Schritte näherten und dann die Tür schwungvoll aufging.

 

Ben betrat grußlos das Haus, legte Hut, Jacke und Revolvergurt ab und ging zu seinem Schreibtisch, ohne den Jungen auch nur eines Blickes zu würdigen. Perry trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

 

"Mister Cartwright, ich wollte ..." versuchte er ein zweites Mal, sein Tun zu entschuldigen oder wenigstens zu erklären. Auch diesmal ließ der Ältere ihn nicht ausreden.

 

"Geh auf dein Zimmer! Ich will dich hier nicht sehen", befahl er barsch.

 

Perry starrte seinen Boss entgeistert an. Seit ein paar Stunden hatte er sich in den schrecklichsten Farben das Donnerwetter ausgemalt, das ihn erwarten würde, sobald der Rancher aus der Stadt nach Hause. Und nun das - Stubenarrest wie ein Schuljunge?

 

"Ist das alles?" entfuhr es ihm fassungslos.

 

Ben blickte auf. Zum ersten Mal sah er Perry direkt an und dem junge Mann wurde es unter diesem strengen Blick noch unbehaglicher.

 

"Nein Perry, das ist nicht alles", erklärte Ben ernst, "dein Verhalten wird Konsequenzen haben. Aber im Moment bin ich zu wütend auf dich, um fair zu entscheiden, welche Konsequenzen das sind."

 

"Verstehe", murmelte Perry zerknirscht und trottete nach oben.

 

"Hi Pa", erschallte es vergnügt dreistimmig, als Adam, Hoss und Little Joe pünktlich zum Abendessen zusammen hereinkamen.

 

"N' Abend", grummelte es zurück, und die drei tauschten fragende Blicke. Sie spürten den Zorn ihres Vaters, hatten aber keine Ahnung, warum er so aufgebracht war. Schnell setzten sie sich an den Tisch. Little Joe sah das fünfte Gedeck und fragte arglos:

 

"Wo ist denn Perry?"

 

"Oben. Und da bleibt er auch, bis ich ihm erlaube, herunterzukommen."

 

Adam schmunzelte. "Der Junge scheint ja schon wieder mächtig in Ungnade gefallen zu sein. Was hat er denn heute wieder angestellt? Er sollte doch nur die Remuda zum Camp am See bringen."

 

"Was er tut, ist nicht notwendigerweise das, was er tut soll", grollte Ben und berichtete ihnen von dem unerwarteten Zusammentreffen in Virginia City. Schließlich endete er mit "Wenn er nur einer unserer Rancharbeiter wäre, hätte ich ihn auf der Stelle rausgeschmissen."

 

Seine Söhne schwiegen, schließlich murmelte Little Joe betroffen: "Aber er ist nicht bloß einer unserer Männer."

 

"Das weiß ich, Joe. Ich kenne seine Vergangenheit so gut wie du. Trotzdem überlege ich ernsthaft, ob das nicht das Beste wäre, ihn zu feuern."

 

"Aber Pa, das kannst du nicht tun. Wenn du ihn feuerst, kriegt er keinen neuen Job. Dann klaut er bald wieder und landet im Gefängnis", protestierte nun auch Hoss.

 

"Nenn mir nur einen guten Grund, warum ich ihm noch eine Chance geben soll."

 

"Weil...weil...er eigentlich schon zur Familie gehört...irgendwie" stammelte Little Joe, und Adam und Hoss nickten zustimmend.

 

"Genau. Auch wenn er Hike heißt und nicht Cartwright. Er hat dir das Leben gerettet, damals in Angels Dream und deshalb hast du ihn hergeholt auf die Ponderosa."

 

"Hmm", brummte Ben, dessen Zorn langsam wich. Die Fürsprache seiner Söhne begann zu wirken. "Aber ich will ihn nicht ungeschoren davonkommen lassen. Er muss merken, dass er sich nicht alles erlauben kann."

 

"Dann gib ihm ein paar Extra-Arbeiten: Holz hacken, die Sattelkammer aufräumen, die Scheune streichen", schlug Adam vor.

 

"Soviel Holz, wie er dafür hacken müsste, brauchen wir im ganzen Jahr nicht", kommentierte Ben trocken. Er war inzwischen fast besänftigt.

 

"Meinst du nicht, dass du die ganze Sache zu ernst nimmst?" fragte Adam behutsam, "sicher, der Junge  ist ein Dickkopf und braucht eine starke Hand. Aber trotzdem - du bist doch sonst nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen."

 

Ben schwieg einen Moment nachdenklich, dann erwiderte er: "Es ist nicht die Tatsache, dass er sich vor der Arbeit gedrückt hat. Mir gefällt überhaupt nicht, dass er sich mit diesem Harris abgibt. Ich habe heute nur ein paar Sätze mit dem Kerl gesprochen, aber das hat mir gereicht. Der Mann ist ganz sicher ein Galgenvogel, der irgend etwas im Schilde führt."

 

"Aber du kannst Perry doch nicht vorschreiben, welche Freunde er sich sucht. Wenn dieser Harris ihn zu irgendwelchen krummen Geschäften verleiten will, wird er es merken und ihn davonjagen."

 

"Genau da liegt mein Problem, Joe. Wir haben Perry bei uns aufgenommen, um ihm zu helfen, sich von seiner fragwürdigen Vergangenheit zu lösen. Aber jetzt, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, scheint er alles zu vergessen, was wir ihm gezeigt haben. Vielleicht haben wir uns geirrt, vielleicht können wir Perry gar nicht ändern."

 

"Pa, vielleicht braucht er einfach nur etwas Zeit zum Nachdenken. Weißt du noch, wenn wir was ausgefressen hatten, hast uns manchmal auf die große Tour mitgenommen. Wir hatten jede Menge Zeit zum Nachdenken und irgendwann ist uns dein Standpunkt klargeworden. Ich weiß auch nicht, warum sich Perry zur Zeit so seltsam benimmt, und warum dieser Harris ihn so fasziniert, aber ganz offensichtlich beschäftigt ihn irgend etwas. Wenn Perry ein bisschen Zeit und Ruhe zum Nachdenken hätte, käme er vielleicht besser damit klar."

 

"Ich denke drüber nach. Jetzt sollten wir endlich essen. Hop Sing, bitte!"

 

Als die vier am Tisch saßen, fiel ihnen wieder das zusätzliche Gedeck wieder ein.

 

"Perry!" donnerte Ben Richtung Treppe und nur Sekunden später stand der junge Mann im Esszimmer, blickte unsicher in die Runde, setzte sich aber nicht.

 

"Na los, setze dich schon hin. Wir wollen mit dem Essen anfangen", befahl Ben.

 

Perry gehorchte, gab aber keinen Mucks von sich. Nur als Ben ihm einen gefüllten Teller hinschob, sagte er leise: "Danke, aber ich habe gar keinen Hunger."

 

"Du solltest aber etwas essen. Das wird wohl für längere Zeit die letzte richtige Mahlzeit, die du bekommst."

 

"Verstehe", murmelte der junge Mann traurig. Adam, Hoss und Little Joe warfen dem Vater fragende Blicke zu. Der ließ sich nicht beirren.

 

"Was verstehst du?" fragte Ben streng.

 

Perry schluckte, antwortete dann aber mit fester Stimme: "Ich verstehe, dass Sie mich feuern. Ich habe es nicht anders verdient. Ich hätte wohl besser daran denken sollen, bevor ich in die Stadt ritt. Jetzt ist es zu spät."

 

Falls Ben sich seiner Entscheidung noch nicht sicher gewesen wäre, hätte Perrys reumütiges Bekenntnis ihn überzeugt. Aber er wusste ja bereits, was er tun wollte:

 

"Nein, es ist noch nicht zu spät. Ich werde dich bestrafen, aber ich werde dich nicht rauswerfen. Dafür kannst du dich übrigens bei meinen Söhnen bedanken. Sie haben mich umgestimmt. Du wirst die Schutzhütte am Eagle’s Nest instand setzen. Das Dach ist nicht mehr dicht, die Zäune sind niedergerissen, innen ist es dreckig und unaufgeräumt und im Stall sieht es aus, als sein der Blitz eingeschlagen, was wohl auch tatsächlich der Fall war. Du wirst da oben mindestens eine Woche zu tun haben, das gibt dir Zeit, über dein Benehmen nachzudenken. Und jetzt schlage ich vor, dass dieses leidige Thema beendet wird."  Er zwinkerte Joe zu, der mit einem flüchtigen Lächeln antwortete.

 

 

Nach dem Frühstück sattelte Perry zur gleichen Zeit wie Little Joe im Stall sein Pferd Hobo, allerdings nicht ganz so zufällig, wie Little Joe annehmen sollte. Da ihm nicht viel Zeit blieb, kam er gleich zur Sache.

 

"Little Joe, du musst mir helfen", begann er ernst.

 

"Gerne, wenn ich kann. Was ist denn los?" Little Joe unterbrach sofort das Striegeln.

 

"Du musst nach Virginia City und Percy etwas von mir ausrichten."

 

"Percy? Welchen Percy meinst du denn?" Little Joe stellte sich absichtlich unwissend, um mehr herauszukriegen. Er dachte besorgt an die Worte seines Vaters. Dass sein Freund schon wieder an diesen Harris dachte, gefiel auch ihm nicht.

 

"Percy Harris, frag nicht so blöd." Als Little Joe sich beleidigt abwandte, um sich wieder um Cochise zu kümmern, bedauerte Perry seine unhöfliche Bemerkung. "Tut mir leid, war nicht so gemeint. Ich möchte, dass du Perry erklärst, warum ich vorläufig nicht in die Stadt kommen kann."

 

"Und wo finde ich diesen Harris? Ich kann doch nicht die ganze Stadt nach ihm absuchen."

 

"Er wohnt im 'Mexican Hat'. Wenn er nicht da ist, hinterlässt du ihm eine Nachricht. Bitte!"

 

Little Joe fiel vor Schreck fast der Striegel aus der Hand. "Perry, du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich da noch mal hingehe", protestierte er empört.

 

"Little Joe, bitte!" flehte Perry seinen Freund an. "wenn du das nicht machst, dann muss ich selber in die Stadt. Wenn dein Vater mich dabei erwischt, bringt er mich um."

 

"Langsam und qualvoll", bestätigte Little Joe grinsend und schielte zu Perry hinüber. Aber sein Freund lächelte nicht, sondern schob mit maskenhaft starrem Gesichtsausdruck den Sattel zurecht. Da begriff der junge Cartwright, dass der andere keine Scherze machte, sondern wirklich in die Stadt reiten würde. "Mensch, komm bloß nicht auf dumme Gedanken. Ich werden deinem Freund Bescheid sagen", stimmte er schnell zu.

 

"Danke." Perry war die Erleichterung deutlich anzusehen. Augenblicklich entspannte sich sein Gesichtsausdruck und das spitzbübische Lächeln kehrte zurück. "Little Joe?" fragte er gedehnt.

 

"Was denn noch?"

 

"Hast du eine Ahnung, warum dein Vater mich nicht rausgeworfen hat?"

 

"Nein. Aber eines weiß ich genau...", antwortete der junge Mann und hielt inne, während er abschließend noch einmal den Sattelgurt nachzog und das Pferd aus dem Stall führte. Perry hing an seinen Lippen. "...wenn du noch einmal Dummheiten machst, bist du Geschichte." Damit schwang er sich aufs Pferd und trabte vom Hof. Perry sah ihm einen Moment schaudernd nach, dann riss ihn Bens Stimme aus seinen Gedanken.

 

"Na, hast du alles zusammen, was du brauchst?" fragte er freundlich und Perry war froh, dass der Rancher offensichtlich nicht mehr wütend auf ihn war.

 

"Ja Sir, genug Proviant für eine Woche Wildnis. Pferd und Reiter werden bestimmt nicht verhungern."

 

"Ich bin froh, das zu hören", kommentierte Ben amüsiert, "aber ich habe eigentlich mehr an Werkzeug und Material gedacht."

 

"Ach so", druckste Perry verlegen, hatte sich aber schnell wieder gefangen. "Das habe ich auch dabei. Beil, Hammer, Nägel, Fuchsschwanz, Dynamit, Seil, Zange...", begann er aufzuzählen.

 

"Dynamit?" echote Ben erschrocken, sah, dass der junge Mann nun von einem Ohr bis zum andern grinste, und lachte ebenfalls.

 

"Kleiner Scherz. Ich habe jede Menge Zeug aus dem Magazin zusammengepackt, aber was ich wirklich brauche, weiß ich natürlich erst, wenn ich mich da oben umgesehen habe."

 

"Gut. Ich schicke dir in ein paar Tagen einen Mann zur Hütte, dem machst du eine Liste, was dir an Material fehlt. Und nimm ein Gewehr mit. Man kann nie wissen, wen oder was man da oben trifft. Du bist da ganz allein, und es kann jederzeit eine Klapperschlange, ein Bär; ein Puma oder ein Wolf auftauchen. Ganz zu schweigen von zweibeinigen Raubtieren. Ich fühle mich einfach besser, wenn ich weiß, dass du dich im Notfall wehren kannst."

 

"Okay, Sie sind der Boss", grinste Perry und verstaute die Waffe am Sattel. Und da jetzt alles verpackt war, schwang er sich aufs Pferd, winkte zum Abschied und ritt los.

 

***

 

Am Nachmittag kam der junge Mann an der einsam gelegenen Blockhütte an, und er begann sofort mit der Arbeit. Es schien am Vernünftigsten, sich zunächst einen Überblick über den Zustand der Gebäude und der Koppel zu machen und als er schließlich die halbverfallene Hütte, den verwahrlosten Stall und die umgefallenen Zäune inspiziert hatte, fragte er sich entmutigt, wie viele Wochen er wohl hier oben bleiben müsse, bis alles so einigermaßen wiederhergestellt wäre. Aber er war entschlossen, seine Aufgabe gewissenhaft zu erledigen, um Ben Cartwright seine Zuverlässigkeit zu beweisen.

 

Nachdem Perry im Stall eine Ecke wenigstens soweit aufgeräumt hatte, dass er Hobo für die Nacht gut unterstellen konnte, betrat er die Hütte, zündete eine Lampe an und sah sich um. Außer dem Loch im Dach warteten zerborstene oder zumindest umgestürzte Möbel, ein total verrußter und verdreckter Ofen, ein feucht-schimmliger Fetzen, der einmal eine Decke gewesen war, und jede Menge Schmutz und Unrat auf ihn. Angeekelt begann er aufzuräumen und fiel erst weit nach Mitternacht todmüde auf das wacklige Bettgestell.

 

Am nächsten Tag nahm er sich als erstes die Koppel vor, und bis zum Nachmittag war der Zaun repariert, wieder aufgestellt und befestigt. Er wollte gerade zum Stall hinüber, um das Pferd ins Freie zu lassen, als plötzlich Hufgetrappel zu hören war und wenig später Little Joe angetrabt kam.

 

"Hi Perry, ziemlich eintönig hier oben, nicht wahr?" fragte der junge Cartwright gutgelaunt und sprang behände aus dem Sattel.

 

"Meine Güte, hat dein Vater es aber eilig. Ich habe die Liste noch gar nicht angefangen." entgegnete Perry mürrisch.

 

Little Joe runzelte die Stirn. "Ich weiß nicht, von welcher Liste du sprichst. Und was Pa angeht, der ahnt nicht mal, dass ich hier bin. Ich sollte mit Adam zur Nordweide unterwegs sein."

 

"Und warum bist du's nicht?" fragte Perry neugierig, "dein Vater mag es ganz und gar nicht, wenn man nicht tut, was er sagt."

 

"Das musst du gerade sagen", lachte Little Joe, wurde dann aber wieder ernst. "Ich habe eine Nachricht für dich von deinem Freund Harris. Der ist vielleicht ne Type."

 

"Wieso? Was hat er gesagt?" Perry war sofort ganz Ohr.

 

"Erstmal reißt er die Zimmertür auf und hat gleich ne Knarre in der Hand. Und als ich dann sage 'Ich habe eine Nachricht von Perry Hike', da starrt er mich so entgeistert an, als hätte er noch nie von dir gehört und fragt 'von wem?'. Aber schließlich hat er kapiert. Ich soll dir sagen, er kann noch bis Sonntag in der Stadt bleiben, dann muss er weiter."

 

"Bis Sonntag? Mist, das schaff' ich nicht. Hast du dich hier schon mal umgesehen?" murmelte Perry enttäuscht.

 

"Zu zweit geht's schneller", erklärte Little Joe einfach und zog seine Jacke aus, "womit beginnen wir?"

 

Am Abend saßen sie in dem kleinen Blockhaus und machten sich über Perrys Proviant her. Little Joe maß die Vorräte auf dem Tisch mit einem abschätzenden Blick und kommentierte: "Für zwei reicht das nur für ein paar Tage, dann müssen wir uns was jagen. Aber das ist leicht, hier oben gibt es Hunderte von Kaninchen."

 

Perry drehte plötzlich den Kopf und lauschte angespannt in die Nacht. "Was war das?"

 

"Was denn? Ich habe nichts gehört." Little Joe futterte ungerührt weiter.

 

"Doch, da war etwas. Beim Stall", beharrte Perry, der inzwischen zum Fenster gegangen war und in die Dunkelheit spähte.

 

"Vielleicht ein Kaninchen. Das wird schon keinen Schaden anrichten." Little Joe nahm sich noch Kaffee.

 

"Oder ein Bär - und der kann Schaden anrichten. Ich sehe liebe mal nach." Er griff nach dem Gewehr, das Ben ihm mitgegeben hatte und schlüpfte hinaus.

 

Perry schlich vorsichtig am Gebäude entlang, überquerte dann lautlos den kleinen Hof zwischen Hütte und Stall und hielt am Stalltor inne. Er lauschte wieder und diesmal meinte er ein leises Murmeln zu hören. Mit der Waffe in der Hand stieß er das Tor auf und betrat den Stall.

 

"Hände hoch!"

 

Der Mann, der ihm den Rücken zugewandt hatte, gehorchte langsam. Er hatte offensichtlich gerade sein Pferd zu den anderen gestellt und mit etwas Hafer versorgt. Perry erkannte die schöne, schwarze Stute beinahe schneller als den Fremden.

 

"Percy, was machst du denn hier?"

 

Als Harris die Arme langsam sinken ließ und sich breit grinsend umdrehte, nahm Perry die Waffe herunter und ließ den Sicherungsbügel wieder einrasten. Ein Fehler, wie sich eine Sekunde später herausstellte. Aus dem dunklen Schatten der Stallecke sprang ein Mann hinzu, griff Perrys Arm und entriss dem junge Mann die Waffe. Von der anderen Seite tauchte ein zweiter Mann auf und packte den andern Arm.

 

"Was soll das? Lasst mich los!" fauchte Perry und versuchte, sich aus dem Griff der beiden zu entwinden. Aber je mehr er sich wehrte, desto fester packten sie zu und desto wütender wurde der junge Mann. Er sträubte sich immer heftiger und riss und zerrte.

 

"Tu' dir selbst einen Gefallen und beruhige dich endlich", riet Percy Harris. Er hatte bisher Perrys erfolglosen Befreiungsversuchen ausdruckslos zugeschaut, aber nicht eingegriffen. Perry begriff langsam die Ausweglosigkeit seiner Situation und stand schweratmend still. Percy Harris gab den beiden Männer einen kurzen Wink und sie ließen den jungen Mann los.

 

"Percy, was soll das?" wiederholte Perry nun seine Frage und massierte sich verstohlen die Handgelenke. Statt zu antworten, begann der Mann aufreizend langsam, sich eine Zigarette zu drehen, anzuzünden und einen ersten Zug zu tun. Dann endlich bequemte Harris sich mit einem ironischen Grinsen zu einer Antwort.

 

"Perry, ich möchte dir meine Freunde vorstellen, Frank und Smitty. Aber ich glaube, ihr kennt euch bereits."

 

Erst jetzt sah Perry sich im Schein der Laterne seine beiden Angreifer an. Es waren zwei der Männer, die ihn und Little Joe vor dem 'Mexican Hat' zusammengeschlagen hatten.

 

"Das sind deine Freunde? Ich verstehe nicht", murmelte er verwirrt.

 

"Aber das ist doch ganz einfach", erklärte Harris mit einem selbstgefälligen Grinsen "wir haben ein bisschen Theater gespielt, um an euch ranzukommen. Und das hat ja auch bestens geklappt. Du warst gleich am nächsten Tag so freundlich, mir alle Einzelheiten über die 50 000 Dollar erzählt, die der alte Cartwright für die Herde löhnt. Das Geld liegt übrigens inzwischen auf der Ponderosa bereit, dort kann man zur Zeit vor Wachen kaum geradeaus laufen. Dein Tipp war nicht schlecht, herzlichen Dank. Und Little Joe war so freundlich, gleich nachdem er bei mir war, hierher zu reiten. Besser hätte der Plan gar nicht funktionieren können."

 

"Welcher Plan?"

 

"Ich will die 50 000 Dollar haben, die der alte Cartwright zur Zeit auf seiner Ranch hortet."

 

"Pah, die hätten viele gern. Warum sollte er sie dir geben?"

 

"Weil ich ihm einen Handel anbiete, den er nicht ausschlagen kann."

 

"Was für einen Handel?"

 

"Seinen Sohn gegen das Geld. Wenn er vernünftig ist, kriegt er sogar noch eine Zugabe - dich."

 

Perry verschlug es die Sprache. Er war enttäuscht von Harris und gleichzeitig wütend auf sich selbst. Er funkelte den andern nur noch hasserfüllt an. In diesem Moment hörten sie den Schuss.

 

"Mein Gott - Little Joe!" flüsterte Perry tonlos und reagierte dann völlig kopflos. Er rannte so unerwartet los zurück zum Blockhaus, dass alle drei Männer ihre Waffe nicht schnell genug ziehen konnten, um ihn aufzuhalten.

 

Perry stürmte in die Hütte, ohne auch nur einen Moment an die mögliche Gefahr zu denken. Zum Glück achteten die beiden Männer, die dort eingedrungen waren, nicht auf die Tür, sondern beugten sich über Little Joe, der reglos am Boden lag. Perry stieß den einen grob zur Seite, kniete bei seinem Freund nieder, schob ihm vorsichtig den Arm unter den Nacken und half ihm, sich aufzusetzen. Little Joe stöhnte. Er hielt seine Hand auf die Brust gepresst, unter der sich sein Hemd schnell rot färbte.

 

"Ist es schlimm? Steckt die Kugel noch?" fragte Perry besorgt.

 

"Weiß nicht ... tut höllisch weh", presste Little Joe zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor.

 

Inzwischen waren Harris und seine beiden Komplicen ebenfalls hereingekommen, und die fünf Männer standen nun da und blickten auf die jungen Männer nieder. Harris gab einen knappen Befehl, und einer seiner Leute packte Perry bei den Schultern und zerrte ihn hoch. Little Joe stieß einen unterdrückten Schrei aus, als Perry ihn so unerwartet losließ.

 

"Verdammt, geht das nicht anders?" brüllte Perry wütend. Er bekam keine Antwort, statt dessen drehte der Mann ihm die Arme auf den Rücken und band sie brutal an den Handgelenken zusammen. Er wurde aufs Bett gestoßen und schon wurden auch seine Füße gefesselt. Etwas später lag Little Joe halb bewusstlos neben ihm. Sie hatten ihn trotz seiner Verletzung ebenfalls so unbequem gefesselt. Sein Wunde, den sie mit einem Lappen notdürftig verbunden hatten, blutete immer noch heftig.

 

Perry wachte mitten in der Nacht auf. Es brauchte eine Weile, bis seine Augen sich an die Dunkelheit in der Hütte gewöhnt hatten. Die Stalllaterne auf dem Tisch war soweit heruntergedreht, dass sie nur einen kleinen Lichtkegel auf der Tischplatte erzeugte. Harris und zwei der anderen Banditen hatten es offensichtlich vorgezogen, draußen im Stroh zu schlafen, die beiden übrigen, Smitty und der, den sie Abe nannten, hatten es sich in der Hütte leidlich bequem gemacht. Der eine hing halb im Stuhl, die Beine auf dem Tisch, der andere kauerte, vornüber geneigt, den Kopf auf seinen Arme gelegt, ebenfalls am Tisch. Beide schnarchten, was das Zeug hielt. Aber das war es nicht, was Perry geweckt hatte. Er lauschte einen Moment in die Nacht, dann hörte er es wieder, direkt neben ihm.

 

Little Joe fror entsetzlich und sonderbarerweise fühlte er sich gleichzeitig glühend heiß. Er hatte Durst, schrecklichen Durst. Er konnte gar nicht mehr an etwas anderes denken. Irgendwer schien seinen Namen zu rufen, aber das war nicht wichtig. Wasser, nur etwas Wasser! Nur einen einzigen Schluck! Er stöhnte. Er wollte darum bitten, aber da wurde sein Körper erneut von heftigen Fieberkrämpfen geschüttelt und mehr als ein Zähneklappern brachte er nicht zustande.

 

Perry merkte endlich, dass es Little Joe war, der neben ihm zum Gotterbarmen stöhnte und mit den Zähnen klapperte.

 

"Little Joe, bist du okay?" fragte er besorgt, erhielt aber keine Antwort. "Little Joe, was hast du?"

 

Der junge Mann stöhnte wieder fürchterlich, gab aber keine Antwort und Perry geriet in Panik. Little Joe brauchte Hilfe!

 

"Hey ihr, wacht auf!" versuchte er, die beiden Bewacher zu wecken, aber mehr als ein Grunzen bekam er nicht zur Antwort. Er versuchte es erneut: "Hey, aufwachen ihr Schlafmützen, verdammt!" rief er, so laut er konnte, und diesmal reagierte zumindest einer, allerdings nicht so, wie erwartet.

 

"Halt's Maul", murmelte Abe schlaftrunken und drehte den Kopf auf die andere Seite.

 

Perry begriff, dass er so nicht weiterkam. Er streckte sich, soweit es die Fesseln zuließen, und tatsächlich konnte er mit der Stiefelspitze gerade ein Stuhlbein erreichen. Ein kräftiger Tritt und der Kerl wurde unsanft aus seinen Träumen gerissen, als sein Stuhl unter ihm wegkrachte. Dass Smitty trotz des Höllenlärms nicht aufwachte, konnte nur an dem Whiskey liegen, den er am Abend zuvor reichlich in sich hineingekippt hatte.

 

"Dir werd' ich's zeigen", knurrte sein Kumpel und rappelte sich auf. Wütend stampfte er auf Perry zu, die Fäuste geballt. Perry ließ ihn fast ganz herankommen, doch plötzlich winkelte er die Beine an und stieß dann mit den Stiefeln erneut kraftvoll zu. Er traf den Mann an seiner empfindlichsten Stelle. Dem Banditen schossen Tränen in die Augen. Er klappte zusammen wie ein Taschenmesser. Gleichzeitig taumelte er ein paar Schritte zurück und stieß dabei gegen den Tisch, der krachend zusammenbrach. Smitty verlor damit den Halt und das Gleichgewicht und polterte samt Stuhl in die Trümmer. Zu allem Unglück zerbrach die Laterne krachend und das brennende Petroleum breitetet sich in Windeseile aus. Plötzlich stand Smittys Hemdsärmel in Flammen und der Mann schrie vor Schreck und Schmerz gellend auf. Abe stürzte geistesgegenwärtig zu ihm und erstickte die Flammen.

 

In diesem Moment rissen Percy Harris und die beiden anderen die Tür zum Blockhaus auf, die Waffen in der Hand.

 

"Was ist hier los?" brüllte Harris in das Chaos, "was hat das zu bedeuten?"

 

"Das war dieser  kleine Teufel. Er ..."

 

"Du willst damit sagen, dass ein gefesselter Junge zwei erwachsene Männer außer Gefecht setzt und dabei noch eine Hütte in Schutt und Asche legt?" fragte Harris ungläubig und lachte schallend, als die beiden Männer nickten.

 

"Ja", grollte Abe wütend, "aber das macht er nicht noch einmal. Ich werde ihn zu Hackfleich verarbeiten."

 

Sein Boss hielt ihn zurück:

 

"Du wirst gar nichts tun. Ich kümmere mich darum." Er trat zu Perry, der inzwischen wieder auf dem Bett kauerte. "Was sollte der Aufstand?"

 

"Es ist wegen Little Joe. Er braucht dringend einen Arzt, sonst geht er drauf."

 

Harris hob seine Laterne und betrachtete den jungen Mann eingehend.

 

"Da könntest du recht haben."

 

"Ben Cartwright gibt dir kein Geld, wenn Little Joe stirbt. Hol' einen Arzt, bitte!"

 

Perry wusste nicht, ob Drohungen oder Bitten besser geeignet waren, Harris zu erweichen. Er zuckte zusammen, als der Anführer der Banditen ein Messer aus dem Stiefelschaft zog, aber der Mann hatte nicht vor, ihn zu verletzen. Statt dessen durchschnitt er mit einem einzigen Schnitt die Fuß- und anschließend auch die Handfesseln der beiden Gefangenen.

 

"Gib' ihm Wasser", befahl er kurz angebunden.

 

Perry gehorchte sofort. Little Joe schluckte gierig, wurde danach aber von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Er sank erschöpft zurück auf das Bett und starrte apathisch ins Nichts. Er zitterte immer noch heftig, und Perry wickelte ihn behutsam in die Decken.

 

"Er braucht dringend einen Arzt, bitte", flehte er Harris an, der ihn die ganze Zeit argwöhnisch beobachtete.

 

"Er kann zu einem Arzt", stimmte der Mann zu und Perry atmete erleichtert auf. Aber er wurde enttäuscht, denn Harris war noch nicht fertig, "Er kann zu einem Arzt, sobald ich das Geld habe. Und du wirst es jetzt besorgen."

 

"Ich? Wie?"

 

"Du reitest zur Ponderosa und bringst die Cartwrights her, zusammen mit dem Geld natürlich. Wenn ich die Knete habe, kann dein Freund zu einem Arzt, eher nicht. Aber falls du abhaust oder ein Sheriff hier auftaucht oder sonst jemand, kann ihm kein Arzt der Welt mehr helfen, das schwör' ich dir."

 

"Aber bis zur Ranch ist es ein Fünfstundenritt, zehn Stunden hin und zurück. Zehn Stunden, Percy! Das schafft er nicht", protestierte Perry empört, aber der andere blieb unerbittlich.

 

"Du solltest dich beeilen, nicht wahr?"

 

Perry starrte ihn fassungslos an, konnte diese Grausamkeit einfach nicht begreifen. Little Joe stöhnte wieder und das gab den Ausschlag. Perry stürzte aus der Hütte, als sei der Teufel hinter ihm her.

 

Als er völlig erschöpft vor dem Ranchhaus aus dem Sattel rutschte, kam einer der Cowboys neugierig angelaufen. Er strich über Hobos schweißnassen,  zitternden Flanken und fragte besorgt:

 

"Was ist passiert? Du richtest doch nicht ohne Grund dein Pferd zugrunde."

 

Perry drückte ihm die Zügel in die Hand und während er schon zum Haus lief, rief er knapp:

 

"Erklär' ich später. Sattle sofort die Pferde der Cartwrights und ein frisches für mich. Und dann kümmere dich um Hobo."

 

Ben und Adam blickten erschrocken von ihren Papieren auf, als der junge Mann so ungestüm ins Haus gestürmt kam. Als sie sahen, dass der junge Mann total erschöpft war, zwang Ben ihn, sich erst einmal hinzusetzen, und Adam holte ihm ein Glas Wasser, obwohl Perry sofort mit seinem aufgeregten Bericht beginnen wollte. Dann ließen sie ihn ohne Unterbrechung erzählen und zum Schluss sagte Ben nur: "Also los." und ging zum Safe.

 

Als Ben, Adam, Hoss und Perry vor der Hütte ankamen, traten Harris und seine Männer mit schussbereiten Waffen vor das Gebäude.

 

"Absteigen!" Sie gehorchten schweigend.

 

"Waffen fallen lassen, schön langsam." Die Cartwrights kamen auch diesem Befehl ohne ein Wort nach.

 

"Her mit dem Geld."

 

"Erst wenn ich meinen Sohn habe", widersetzte sich Ben ruhig und bestimmt.

 

Für einen Moment schien Harris überrascht von dem unerwarteten Widerspruch, aber dann gab er Abe ein kurzes Zeichen. Der Mann verschwand in der Hütte und führte kurz darauf Little Joe heraus. Er musste den jungen Mann stützen, denn der war kaum noch in der Lage, sich ohne Hilfe auf den Beinen zu halten.

 

Ben beherrschte sich nur mühsam. Eine kaum zu bändigende Wut stieg in ihm hoch, als er seinen Sohn so leiden sah. Er nahm sich zusammen, ging zu seinem Pferd, zog die Satteltasche herunter und warf sie Harris vor die Füße. Der hob sie hoch, riss sie gierig auf und starrte hinein.

 

"Sie sind ein Ehrenmann, Cartwright. Ich denke, ich muss nicht nachzählen", kommentierte er spöttisch.

 

"Wie soll es weitergehen?" Zum ersten Mal mischte sich Adam ein. Auch er war kalkweiß und ließ die Augen nicht von seinem kleinen Bruder.

 

"Wir verschwinden jetzt. Sie geben uns zwei Stunden Vorsprung, danach können Sie tun, was Sie wollen."

 

Ben nickte. "Einverstanden", sagte er ernst.

 

Harris grinste. "Es freut mich, dass Sie es mir so einfach machen. Allerdings möchte ich ganz sicher gehen. Deshalb wird Perry uns noch eine Weile begleiten, nur für den Fall, dass Sie es sich anders überlegen."

 

Adam wollte protestieren, aber Perry kam ihm zuvor.

 

"Okay, aber ich brauche ein frisches Pferd", sagte er nur und blickte von Harris zu den Cartwrights und wieder zu Harris.

 

Wie aufs Stichwort kam Abe mit den gesattelten Pferden vom Stall vor die Hütte. Die Männer saßen auf, dabei achteten sie darauf, dass immer mindestens ein Revolver auf die Cartwrights gerichtet blieb. Zuletzt dirigierte Harris seine Stute neben Perry, rückte im Sattel nach vorn und streckte wortlos die Hand aus. Perry begriff und ließ sich von ihm hinten in den Sattel ziehen. Sie galoppierten davon.

 

Little Joe schien plötzlich zu begreifen, was um ihn herum geschah.

 

"Pa", flüsterte er erleichtert, "Pa." Er taumelte ein paar Schritte auf seine Familie zu. Hoss Cartwright konnte ihn gerade noch auffangen, als er bewusstlos zusammenbrach.

 

Hoss trug seinen Bruder zurück in die Hütte. Ben und Adam folgten ihnen mit ernster Miene.

 

"Pa, bis zur Stadt ist es ein Tagesritt, das schafft er niemals in diesem Zustand. Und den Arzt herzuholen würde sogar doppelt solange dauern. Was sollen wir bloß tun?"

 

Ben hatte inzwischen behutsam den notdürftigen Verband und das Hemd aufgeschnitten und ganz vorsichtig die Wunde abgetastet.

 

"Die Kugel steckt noch. Ich muss sie rausholen. Seht euch mal in der Hütte um, vielleicht findet ihr etwas Whiskey. Und wir brauchen hinterher etwas Sauberes zum Verbinden der Wunde. Und Lampen. "

 

Sie tauschten nur einen kurzen Blick. Alle wussten, dass das im Moment Little Joes einzige Chance war. Schweigend begannen sie mit den Vorbereitungen.

 

Es war draußen schon dunkel geworden, als endlich war die Kugel entfernt und die Wunde verbunden war. Little Joe war noch bewusstlos, aber sein Atem ging nun regelmäßiger und er stöhnte nicht mehr. Ben wischte sich müde den Schweiß von der Stirn, dann nahm er sich zusammen. 

 

"Ihr bringt Little Joe nach Virginia City zum Arzt, sobald die Sonne aufgeht. Ich komme nach. Ich muss noch etwas erledigen."

 

Adam ahnte, was sein Vater vorhatte und protestierte:

 

"Du kannst sie nicht allein verfolgen. Sie sind zu fünft, und es ist dunkel."

 

"Ich werde vorsichtig sein. Aber ich muss es tun, wegen Perry, verstehst du?"

 

Adam nickte.

 

"Pass' auf dich auf", murmelte er, dann wandte er sich abrupt ab und begann wieder, Little Joes Stirn mit einem feuchten Tuch zu kühlen. Ben ging hinaus.

 

Eine Stunde später fand Ben Cartwright eine Stelle, wo auffallend viel Gras und Gestrüpp niedergetrampelt war und auch ein paar Zigarettenkippen davon zeugten, dass die Männer eine längere Pause gemacht hatten. Er stieg ab und untersuchte die Hufabdrücke. Offensichtlich hatte die Bande sich hier getrennt. Der Rancher konnte im fahlen Licht des Mondes gerade noch erkennen, dass die Männer einzeln in verschiedene Richtungen weitergeritten waren. Die Spur nach Westen war deutlich tiefer und ausgeprägter als die anderen. Das Pferd hatte eine schwerere Last getragen. Das konnten nur Perry und einer seiner Entführer sein. Vermutlich hatte Harris selbst den junge Mann bei sich behalten. Der Rancher stieg wieder in den Sattel, wendete Buck nach Westen und nahm die Suche wieder auf.

 

Der Weg, den sie genommen hatten, führte immer weiter den Berg hinauf. Ben Cartwright hatte keine Schwierigkeiten, ihrer Spur zu folgen und da er die Gegend wie seine Westentasche kannte, wurde ihr Vorsprung kürzer. Als er sah, dass sie den Pfad in die Bärenschlucht eingeschlagen hatten, wusste er, dass sie bald in der Falle sitzen würden. Der Pfad führte fast ganz um den Berg herum und endete dann in einem Tal, das ringsum von hohen Felswänden eingekesselt war. Dort kam man im Sattel nicht weiter.

 

Und tatsächlich, nach einer Weile fand er das Pferd. Die schwarze Stute graste friedlich auf einer kleinen Wiese. Sie war nicht angebunden, offensichtlich hatte ihr Reiter nicht vor, zurückzukommen. Ben band sie dennoch fest, ebenso seinen Falben, dann zog er das Gewehr aus dem Scabbard und folgte dem kleinen Weg, der sich zwischen Sträuchern den Berg hinaufwand.

 

Auch wenn er sie nicht sehen konnte, wusste er doch, wo sie waren. Er kannte den Pfad. Er endete schon bald auf einem Hochplateau, von dort kam man nicht weiter, denn auf der einen Seite versperrte eine schroffe Felswand den Weg, auf der anderen Seite ging es fast senkrechte mehrere hundert Meter tief in die Schlucht.

 

Ben Cartwright suchte sich einen Felsen, der ihm bei einem Schusswechsel Deckung geben konnte, beobachtete den Rand des Felsplateaus und als er eine Bewegung zu sehen glaubte, rief er nach oben:

 

"Harris, es hat keinen Sinn! Sie sitzen in der Falle. Lassen Sie den Jungen gehen und ergeben Sie sich!"

 

Harris Antwort bestand aus zwei Kugeln, die haarscharf neben Bens Hut hinwegzischten und in den Stein schlugen.

 

Das Mündungsfeuer verriet seine Position. Nun sah Ben den Mann. Er war ebenfalls hinter einen Felsbrocken in Deckung gegangen, aber er wurde nur halb verdeckt. Langsam brachte der Rancher sein Gewehr in Position. Er hatte den Kerl genau im Visier, brauchte nur noch abzudrücken, als plötzlich eine zweite Gestalt über die Felskante kletterte und sich vor Harris aufstellte.

 

"Perry, Vorsicht! Du bist genau in der Schusslinie!" rief Ben nach oben. Er zielte mit seinem Gewehr immer noch auf Harris, wagte aber nicht abzudrücken, solange der junge Mann dort stand. Perry rührte sich nicht. Er schüttelte nur den Kopf und schrie voller Verzweiflung zurück:

 

"Nein! Ich kann nicht!"

 

Ben ließ das Gewehr sinken. Er nahm an, dass Harris den Jungen dazu zwang, ihn zu schützen, aber er irrte sich, denn der Mann oben drängte ebenfalls:

 

"Geh zur Seite, sonst wirst du getroffen."

 

"Nein, ich...ich will nicht, dass ihr aufeinander schießt. Und er wird mich nicht gefährden", beharrte Perry und drehte sich langsam zu dem Banditen um.

 

"Warum sollte er Rücksicht auf dich nehmen? Er ist nicht dein Vater"; kommentierte Harris verächtlich.

 

"Nein, er ist nicht mein Vater", wiederholte Perry den letzten Satz, betonte ihn aber seltsam.

 

Der kurze Moment, in dem Harris den junge Mann daraufhin bestürzt, beinahe schockiert, anstarrte, reichte. Perry war in zwei Sätzen wieder oben auf der Felsplatte, griff blitzschnell nach dem Colt des Mannes und versuchte, ihm die Waffe zu entreißen. Harris wehrte ihn ab, kriegte ihn irgendwo zu packen, und die beiden rangen verbissen ein paar Sekunden um den Colt. Der Bandit gewann schließlich die Oberhand. Es gelang ihm, den jungen Mann wegzustoßen.

 

Perry taumelte ein paar Schritte nach hinten, stolperte, verlor jäh den Boden unter den Füßen und stürzte in die Tiefe. Felswand flog auf ihn zu, Sträucher, Steine, Splitter, Erde. Er rutschte rasend schnell, versuchte verzweifelt, irgend etwas zu packen, stürzte, rollte, flog tiefer, immer tiefer, jeder Aufprall ein weiterer heftiger Schlag und weitere, schlimmere Schmerzen. Er war ihm gar nicht bewusst, dass es plötzlich nicht mehr weiterging, erst als er Harris Stimme weit über sich brüllen hörte:

 

"Nicht loslassen! Bleibe ganz ruhig, wir holen dich da raus!"

 

begriff er langsam, was den Fall gebremst hatte. Er klebte an einem kleinen Felsvorsprung, beide Hände fest um eine mickrige Kiefer gekrampft, die es irgendwie geschafft hatte, auf diesem kleinen Stück Stein in einer Felsspalte Wurzeln zu schlagen. Perry versuchte, mit den Beinen auch irgendwo Halt zu finden, trat aber ins Leere. Sein ganzes Gewicht hing an seinen Armen und die wurden langsam taub.

 

"Percy! Um Gottes Willen mach schnell! Ich kann nicht mehr lange festhalten!" brüllte er nach oben und versuchte, wenigstens den Körper ein wenig zu verschieben, um das Gewicht etwas zu verlagern. Im Stamm der Kiefer knarrte es bedenklich, sie hielt aber stand. Perry wagte kaum noch zu atmen.

 

Percy Harris starrte noch einen Moment in den Abgrund, dann drehte es er sich um und hastete auf die andere Seite des Hochplateaus. Ohne auf Deckung zu achten, baute er sich am Rand der Felsplatte auf und schwenkte seinen Arm.

 

Ben Cartwright hatte voller Sorge den Kampf beobachtet, aber nicht eingreifen können. Auch wenn Harris in diesem Moment nicht auf seine Deckung achtete, war es nicht möglich, einen Schuss abzufeuern. Die Gefahr, Perry versehentlich zu verletzen war zu groß. Dann waren die beiden aus seinem Gesichtskreis verschwunden und nun erschien nur Harris. Ben befürchtete Schlimmes und tatsächlich:

 

"Cartwright, der Junge ist in Gefahr. Sie müssen mir helfen. Kommen Sie hier rauf. Schnell! Und bringen Sie alle Seile mit, die Sie finden."

 

"Harris, ich komme, wenn Sie Ihre Waffe wegwerfen", rief Ben zurück. Er zögerte, wie konnte er sicher sein, dass das Ganze nicht eine Falle war? Aber Harris gehorchte sofort. Der Colt flog im hohen Bogen über die Felsen, den Hang hinunter. Jetzt begriff auch Ben, dass der andere es offenbar ernst meinte. So schnell er konnte, lief er zu den Pferden zurück und  riss von jedem Sattel das Lasso herunter.

 

Harris half ihm hoch, als er schweratmend das Felsplateau erreichte.

 

"Was ist passiert?"

 

"Perry ist abgestürzt. Sein Leben hängt an einer winzigen Kiefer. Wir müssen ihn da hochziehen. Ich seile mich ab und Sie sichern mich."

 

"Kommt nicht in Frage", lehnte Ben ab, "dabei können Sie draufgehen. Ich gehe runter und Sie bleiben oben."

 

"Meinetwegen Cartwright, aber Ihre Sturheit bringt nicht nur Sie um, sondern auch den Jungen", kommentierte Harris bissig, während er bereits sorgfältig die Seile miteinander verknotete.

 

"Warum?" fauchte Ben.

 

"Weil Sie schwerer sind als ich und auch ein paar Takte älter." Inzwischen waren die Seile gut verbunden und Harris schlang sie um den einzigen Baum, der nah genug am Abgrund stand. Vorsichtig prüfte er, wie stabil der Stamm war und nickte zufrieden.

 

"Der hält. Damit lenken wir die Kraft um. Was ist jetzt, Cartwright, wollen Sie immer unbedingt den Helden spielen oder sollen wir versuchen, den Jungen zu retten?"

 

Ben zögerte, dann nahm er das Sicherungsseil und schlang es sich mehrfach um Arme und Hände.

 

"Runter mit Ihnen, Harris."

 

Er trat mit dem Banditen zusammen an den Abgrund und blickte hinunter. Perry hing immer noch an den Baum geklammert an der Felswand, unter ihm ein mehrere hundert Meter tiefes Nichts.

 

"Perry, wir holen dich jetzt raus. Halt durch Junge, es dauert nicht mehr lange!"

 

Perry erkannte Ben Cartwrights Stimme und seufzte erleichtert. Er wagte aber nicht mehr, den Kopf zu heben und zu antworten. Die kleine Kiefer hatte noch zweimal beunruhigend geknarrt und einmal hatten die Äste, an denen er hing, mit einem Ruck ein Stück nachgegeben. Er krallte sich immer noch fest: Er konnte sehen, dass Finger und Knöchel inzwischen schneeweiß waren, ob von dem kalten Wind, der Angst oder weil das Blut langsam entwich und sie taub wurden, weil er schon eine Ewigkeit hier hing, wusste er nicht.

 

Percy Harris hangelte sich flink das Seil hinunter. Er nutzte dabei äußerst geschickt jeden Felsvorsprung und jede Felsspalte, und Ben merkte kaum, dass er einen Mann hielt. Endlich hatte er den Jungen erreicht. Ein Blick in Perrys Augen sagte ihm, dass der junge Mann halbtot vor Angst war. Tatsächlich schien er in einem Reflex zurückweichen zu wollen, als Percy ihm die Hand hinhielt.

 

"Nein, nicht, der Baum bricht", wimmerte Perry dabei angstvoll.

 

"Keine Sorge. Ich packe dich. Ganz ruhig."

 

"Percy...ich muss dir was sagen...ich...du...", presste der junge Mann hervor.

 

"Schscht, später. Jetzt gib mir deine Hand."

 

"Nein." Wieder flammte die Panik in den Augen des Jungen auf.

 

"Vertrau mir. Es wird alles gut. Gib mir deine Hand."

 

Langsam, ganz langsam löste der junge Mann die Finger der linken Hand vom Ast der Kiefer und schob sie Harris entgegen. Der packte blitzschnell zu.

 

"Ich hab dich. Das Schlimmste ist überstanden. Jetzt die andere Hand."

 

Perry zögerte wieder, gehorchte dann aber. Harris zog ihn schnell zu sich hoch, so dass er nun mit den Füßen auf dem kleinen Felsvorsprung stehen konnte. Dicht an die Felswand gepresst wagte er zum ersten Mal, tief durchzuatmen. Er war kreidebleich und zitterte am ganzen Körper.

 

Inzwischen hatte Harris sich selbst vom Seil gelöst und es dem junge Mannn Mann umgebunden.

 

"Cartwright, wir haben ihn. Langsam hochziehen!" rief er nach oben und Perry befahl er: "Er schafft es nicht, dich allein hochzuziehen. Du musst ihn unterstützen."

 

Das Seil ruckte und spannte sich. Perry hatte sich wieder gefangen und nickte. Als das Seil ganz straff war, begann er tapfer zu klettern.

 

Eine halbe Stunde später hatte es auch Harris mit Hilfe der beiden anderen wieder geschafft, auf das sichere Hochplateau zurückzusteigen. Die drei Männer lagen zu Tode erschöpft auf den Felsen und rangen nach Luft. Perry war der erste, der sich wieder so weit erholt hatte, dass er sprechen konnte.

 

"Das war verdammt knapp. Danke. Aber was wird jetzt?"

 

"Was wird jetzt?" wiederholte Percy Harris verwundert. Ben verstand seinen Schützling besser.

 

"Du meinst mit Mister Harris? Ich muss ihm den Sheriff übergeben, und er muss vor Gericht. Aber ich werde dafür sorgen, dass das, was er gerade getan hat, seine Strafe mildert."

 

"Nein, ich geh nicht ins wieder Gefängnis. Das halte ich nicht aus", stieß Harris plötzlich entschlossen hervor und sprang unerwartet so schnell auf, dass die beiden anderen gar nicht reagieren konnten. In den Augen des Mannes spiegelte sich die gleiche Panik, die er vorher noch bei Perry beobachtet hatte. Er riss blitzschnell Bens Revolver an sich und fuchtelte damit herum.

 

"Stecken Sie die Waffe ein. Das macht alles nur schlimmer", befahl Ben ruhig.

 

"Das macht doch keinen Sinn. Erst rettest du mich und dann willst du mich erschießen?" versuchte auch Perry, den Mann umzustimmen.

 

Aber Harris hörte gar nicht zu. Er hielt die Waffe immer noch auf die beiden Männer gerichtet und wich langsam Schritt für Schritt rückwärts.

 

"Ein paar Jahre im Gefängnis stehen Sie doch durch, ein Kerl wie Sie", versuchte Ben Cartwright weiter, den andern zu beruhigen, "und danach sind Sie ein freier Mann und können neu anfangen."

 

"Für einen wie mich gibt es keinen Neuanfang", antwortete Harris bitter und trat noch einen Schritt zurück. "Du kannst Blackberry  haben. Kümmere dich gut um sie."

 

In diesem Moment begriff Perry, was er vorhatte.

 

"Nein!" schrie er gellend und sprang nach vorne.

 

Zu spät! Harris hörte ihn nicht. Er stand nicht mehr auf der Felsplatte. Ben nahm den geschockten jungen Mann in seine Arme, zog ihn behutsam an seine Brust und zwang ihn so, nicht mehr in den Abgrund zu starren.

 

Tage später kehrte langsam der Alltag auf die Ponderosa zurück. Little Joe musste nicht mehr das Bett hüten und nur der Verband erinnerte noch an das schlimme Erlebnis. Sogar das Geld war fast vollständig sichergestellt. Roy Coffee hatte ein paar Telegramme losgeschickt und dann war es den Sheriffs in den umliegenden Städten gar nicht so schwer gefallen, ein Auge auf ein paar Fremde zu haben, die plötzlich mit einer Menge Geld um sich warfen.

 

Nur Perry gelang es nicht, einfach zur Tagesordnung zurückzukehren. Er tat seine Arbeit, aber die übrige Zeit war er völlig in sich gekehrt, redete kaum, aß fast nichts und verkroch er sich am liebsten in seinem Zimmer.

 

Ben Cartwright gestand ihm ein paar Tage Ruhe zu, dann aber fand er es an der Zeit, mit dem Jungen zu reden. Als Perry wieder einmal das Abendessen ausfallen ließ, ging er zu ihm. Er klopfte an die Zimmertür, wartete vergeblich auf Antwort, trat schließlich unaufgefordert ein. Perry lag auf dem Bett, den Kopf in das Kissen vergraben. Ben zog den Schaukelstuhl zum Bett und setzte sich.

 

"Nun, meinst du nicht, wir sollten reden?"

 

"Worüber?" murmelte der junge Mann in sein Kissen.

 

"Perry, sieh mich bitte an, wenn ich mit dir rede." Obwohl Ben sich um Verständnis bemühte, stieg langsam auch Ärger in ihm hoch. Der junge Mann gehorchte und Ben sah, dass er sich bemühte, nicht zu weinen.

 

"Ganz ehrlich, ich verstehe deine Trauer nicht. Ich halte sie für etwas übertrieben. Du kanntest den Mann doch kaum."

 

"Immerhin hat er mir zweimal das Leben gerettet."

 

"Immerhin war er auch beide Male Schuld daran, dass du in Gefahr geraten bist."

 

Perry hüllte sich in düsteres Schweigen, und Ben nahm das Gespräch wieder auf.

 

"Du schließt doch sonst nicht so schnell Freundschaften. Warum..."

 

"Er war nicht mein Freund!" schrie Perry mit einem Mal verzweifelt auf. "Er war mein Vater!" Nach diesem Geständnis vergrub er sich wieder in das Kissen und begann haltlos zu schluchzen. Ben konnte nicht glauben, was er da hörte. Behutsam legte er dem jungen Mann die Hand auf die Schulter und drehte ihn zu sich um.

 

"Perry, bitte, erzähl mir die ganze Geschichte. Vielleicht tut es gut, darüber zu reden, und vielleicht kann ich dir helfen."

 

"Es passt alles zusammen. An dem Tag, als Sie uns im International erwischt haben, hat Percy mir von einer Frau mit Namen Sue erzählt. Sie war seine großen Liebe, aber er konnte mit ihr nur wenige Tage zusammensein. lch habe eine ganz ähnliche Geschichte schon einmal gehört, von meiner Mutter, Susan Hike. Das Ganze ist vor etwas knapp zwanzig Jahren passiert, ich bin fast neunzehn. Brauchen Sie noch mehr Beweise?"

 

Ben war von dieser Neuigkeit so betroffen, dass er kaum wusste, was er sagen sollte. "Es könnte  zumindest stimmen." bestätigte er nach einer langen Pause bedächtig. "Hast du mit Harris über deine Vermutung gesprochen?"

 

"Nein, dazu sind wir nicht mehr gekommen. Aber irgendwie weiß ich, dass er es auch wusste." In Perrys Stimme klang mehr Zweifel mit, als seine Worte vermuten ließen, und Ben begriff, wie wichtig dem jungen Mann war, dass Harris von seinem Sohn gewusst hatte. Er nickte und erklärte, wenn auch ein wenig gegen seine Überzeugung:

 

"Ja, wahrscheinlich wusste er es. Schließlich hat er sein Leben für dich riskiert und dir sein Pferd geschenkt."

 

Perry stürzte sich auf seine Zustimmung wie ein Hund auf den Knochen.

 

"Ja, nicht wahr, warum hätte er das sonst tun sollen?" Er schwieg einen Moment und fragte dann unvermittelt: "Mister Cartwright?"

 

"Ja?"

 

"Ist es Ihnen recht, wenn ich morgen wieder zu der Blockhütte reite und die Reparatur fortsetze?"

 

"Du brauchst jetzt ein bisschen Zeit zum Nachdenken, nicht wahr?"

 

Der junge Mann nickte stumm.

 

Ben verstand ihn. Er erhob sich und stellte den Stuhl zurück an seinen Platz.  "Ich bin einverstanden. Und diesmal passe ich ein bisschen besser auf Little Joe auf, damit du auch wirklich deine Ruhe hast."

 

"Bloß nicht", konterte Perry und zum ersten Mal huschte tapfer wieder ein kleines Lächeln über sein blasses Gesicht, "einer muss ja die Arbeit machen, während ich nachdenke."

 

 

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